Dann tat sie etwas, was ihn überraschte. Sie blieb stehen, zog mit klammen Fingern die Marlboro-Packung aus derTasche und hielt sie ihm hin. Sie enthielt noch zwei Zigaretten.
Ein Friedensangebot? Ja, entschied er.
Brenner war nicht nach Rauchen, aber er begriff die Geste und wollte die Kleine kein zweites Mal vor den Kopf stoßen. Also griff er mit tauben Fingern nach der Zigarette, klemmte sie sich zwischen die ebenso tauben Lippen und ließ sich von dem Mädchen Feuer geben.
Seine Lippen und seine Kehle waren so kalt, daß er den Rauch nicht einmal mehr schmeckte. Trotzdem versuchte er wenigstens so etwas wie die Andeutung eines Lächelns auf sein Gesicht zu zaubern. »Danke.«
Astrid nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gleich darauf durch die Nase wieder aus. Brenner war sicher, daß sie nur mühsam ein Husten unterdrückte. Sie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, um den Rauch zu vertreiben, der ihr schon wieder in die Augen zu steigen drohte.
»Du rauchst noch nicht sehr lange, wie?« fragte er. Astrid sah ihn nur an, und er fühlte sich aus irgendeinem Grund genötigt, hinzuzufügen: »Du solltest es lassen.«
»Habe ich dich um deine Meinung gebeten?« fragte Astrid. Dann hustete sie wirklich.
»Ich wollte nur freundlich sein«, sagte Brenner. Auch darum hatte sie ihn nicht gebeten. Auch gut. Sie gingen weiter. Als sie ihre Zigaretten aufgeraucht und beinahe nebenein ander in
den Schnee geschnippt hatten, sagte Astrid plötzlich: »Da vorne geht ein Weg rein.«
Brenner blickte in die Richtung, in die sie deutete. Ihm selbst war die Lücke zwischen den regelmäßig gepflanzten Bäumen noch gar nicht aufgefallen. Er hatte allerdings auch nicht wirklich hingesehen. Sie beschleunigten ihre Schritte und blieben vor der Einmündung stehen.
Die Straße – wenn man sie so nennen wollte – war kaum zwei Meter breit und führte in spitzem Winkel in den Wald hinein. Die Baumkronen hatten den Großteil des Schnees abgehalten, so daß er sehen konnte, daß es sich um eine unbefestigte Fahrspur handelte; eigentlich nicht einmal das, sondern nur eine Bresche im Unterholz, in der geduldig mahlende Räder über Jahre oder Jahrzehnte hinweg ihre Furchen hinterlassen hatten und die von einem Geflecht von Wurzeln durchwoben und im Sommer wahrscheinlich fast vollkommen unter Unkraut und anderem Grünzeug verborgen war – wie übrigens die ganze Abzweigung selbst. Durch den spitzen Winkel, in dem sie in den Wald führte, war sie aus der einen Richtung gar nicht und aus der anderen so gut wie nicht sichtbar. Astrid hatte sie nur entdeckt, weil die weiße Mauer, die das mit Schnee verklumpte Unterholz entlang der Straße bildete, an dieser Stelle unterbrochen war.
»Ein Wirtschaftsweg«, sagte er. »Laß uns weitergehen.« »Vielleicht führt er zu einem Bauernhof oder einem Schloß oder so etwas«, sagte Astrid. »Wir könnten es ja versuchen.« »Ja, vielleicht«, antwortete Brenner. »Aber vielleicht führt er auch nur zu einem Holzstapel auf einer Lichtung oder einer Futterstelle. Oder zwanzig Kilometer durch den Wald zu einer anderen Straße.« Er schüttelte den Kopf. »Es wäre verrückt, da reinzugehen. Hier wissen wir wenigstens, wo wir sind.« »Ach?« sagte Astrid. »Und wo sind wir?«
»Früher oder später kommen wir schon in einen Ort«, antwortete Brenner ärgerlich. »Oder wenigstens zu einem Haus.« »Jemand ist mit dem Wagen da reingefahren«, beharrte Astrid. »Ist nicht mal lange her.«
Sie deutete auf den Boden, und er mußte eingestehen, daß das Mädchen tatsächlich über eine schärfere Beobachtungsgabe verfügte als er. Ihm waren die Reifenspuren bisher nicht einmal aufgefallen, obwohl er direkt darauf stand. Eine dünne Decke aus frisch gefallenem Schnee hatte sich darüber gelegt, aber sie war noch nicht dicht genug, sie ganz zu verbergen.
»Die können genausogut von gestern sein«, sagte er – wider besseres Wissen. Er besaß nicht einmal annähernd das Fährtenlesertalent eines Indianers, doch selbst ihm war klar, daß die Spuren nur wenige Stunden alt sein konnten. Aber: »Außerdem – wer sagt dir, daß die Spuren in den Wald hinein führen? Sie können ebensogut heraus kommen.«
Da Astrid gegen dieses Argument wenig sagen konnte, ignorierte sie es. Statt dessen verlegte sie sich aufs Bitten. »Laß es uns wenigstens versuchen«, sagte sie. »Das hier kann noch kilometerlang so weitergehen. Ich habe keine Lust zu erfrieren.« Sie deutete in den Wald hinein, wartete vergeblich auf eine Antwort – nein, darauf, daß er zustimmte – und kam ihm einen weiteren Schritt entgegen. »Nur bis zur ersten Biegung. Wenn sich danach nichts tut, kehren wir um.«
Brenners Blick folgte dem schmalen Waldweg ein Stück; nur ein paar Meter, denn danach verschmolz der Pfad mit den Schatten, die das Innere des Waldes wie Nebel erfüllten. Vielleicht machte er auch einen Knick; genau ließ sich das nicht sagen. Es spielte auch keine Rolle. Brenner hatte nicht vor, dort hineinzugehen.
»Wir würden uns verirren«, sagte er. »Bestenfalls verlieren wir nur Zeit.«
Ebensogut hätte er mit einem der Bäume sprechen können nein: besser. Der hätte wenigstens keine Widerworte gegeben. »Das kann doch noch kilometerweit so gehen«, sagte Astrid, zum zweitenmal. »Ich habe keine Lust, mir die Zehen abzufrieren. Da drinnen ist es wenigstens wärmer.«
»Aber sei doch vernünftig. Wir werden – «
Er hätte ein Wort benutzen sollen, das sie kannte. Astrid machte sich nicht einmal mehr die Mühe, ihm einen ihrer trotzigen Blicke zuzuwerfen, sondern trat mit einem entschlossenen Schritt von der Straße herunter und begann in den Wald hineinzumarschieren.
Für einen Moment empfand Brenner echte Wut. Und für einen noch kürzeren Moment war er nahe daran, sie einfach laufen zu lassen und seinen Weg auf der Straße fortzusetzen. Verdammt, es war schließlich nicht seineTochter oder sonst jemand, für den er verantwortlich gewesen wäre. Sollte sie doch in ihr Unglück laufen, wenn sie unbedingt wollte! Natürlich tat er es nicht. Statt dessen fluchte er herzhaft allerdings nicht sehr laut – und folgte ihr. »Verdammt, warte! « rief er.
Tatsächlich blieb Astrid stehen und sah zu ihm zurück, während er ungeschickt hinter ihr herhumpelte. Aus seinen Füßen war jegliches Gefühl gewichen, und jetzt, wo er nicht mehr über halbwegs glatten Schnee ging, fiel es ihm schwer, überhaupt die Balance zu bewahren. Brenner ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu halten und nicht der Länge nach auf die Nase zu fallen. Er war sich bewußt, daß er einen ziemlich albernen Anblick bieten mußte, und dieses Wissen schürte seinen Groll auf die Kleine noch. Nicht genug, daß die ihm Schwierigkeiten machte, als würde sie dafür bezahlt, sie ließ ihn auch noch wie einen kompletten Idioten dastehen. Sie war wirklich ein Herzchen.
»Also gut«, sagte er mit einem demonstrativen Blick auf die Armbanduhr. »Fünf Minuten. Wenn wir Dornröschens Schloß bis dahin nicht gefunden haben, kehren wir um.«
»Du hast wirklich deinen witzigenTag, wie?« gab Astrid zurück; ohne eine Spur von Humor – und übrigens auch, ohne auf seinen Vorschlag zu antworten. Sie ging weiter.
»Sag mal« – Brenner platzte endgültig der Kragen – , »bist du eigentlich von zu Hause abgehauen, oder haben deine Eltern dich rausgeschmissen?«
Sie zuckte mit den Achseln und antwortete, ohne ihn anzusehen. »Ich bin gegangen, ehe sie einen Vorwand dafür gefunden haben. Und du?«
Brenner verstand die Frage nicht.
»Ich meine: Wie war es bei dir? Bist du zu Hause geblieben, hast dein Abi und eine Lehre gemacht und dir ein hübsches Appartement von deinen Alten einrichten lassen, nachdem du den Bund hinter dich gebracht hast?«
»Ich war nicht beim Bund«, antwortete er automatisch. »Aber sonst stimmt es – ungefähr. Wieso?«
»ja, so ungefähr hab' ich mir das gedacht.« Astrid seufzte. Sie sprach nicht weiter, doch es war ein Schweigen irgendwie anderer Art als das, was bisher zwischen ihnen geherrscht hatte.
Brenner war verwirrt. Dieses Mädchen irritierte ihn, denn es war gar nicht so berechenbar, wie er bisher trotz allem geglaubt hatte – für einen Mann, dessen Leben zum größten Teil aus Statistiken, Zahlen, vorausberechneten Risiken und Provisionsabrechnungen bestand, ein Graus. Aber zugleich empfand er auch eine fast schon absurde Mischung aus Mitleid und Verantwortungsgefühl. Schließlich war er – ob absichtlich oder nicht – schuld daran, daß sie sich in dieser Lage befand. Niemand hatte ihn gezwungen, anzuhalten und sie mitzunehmen; schon gar nicht in einem Wagen mit fast leerem Tank. Gut – niemand hatte sie gezwungen, einzusteigen. Aber trotzdem … Sie wäre jetzt nicht hier, ohne ihn.