Das Lager war klein, und das Letzte, womit das knappe Dutzend Soldaten hatte rechnen können, war, seine Waffen tatsächlich noch einmal benutzen zu müssen. Zehn Jahre Frieden hatten auch die gefürchteten amerikanischen Marines langsam und weich werden lassen. Salids Meinung zufolge wurden sie sowieso total überschätzt. Wäre es das Ziel ihres Überfalls gewesen, so hätten sie jetzt schon jedes Leben in diesem Lager ausgelöscht.

Salid sah auf die Uhr. Sie lagen genau im Zeitplan, trotz der Zeit, die sie in der Baracke verloren hatten.

Er opferte eine Minute, um mit einem Sprung hinter denumgestürzten Jeep zu gelangen und sich einen Überblick zu verschaffen. Außer den beidenToten in seiner unmittelbaren Umgebung entdeckte er drei weitere Leichen, die aber allesamt amerikanische Uniformen trugen. Eine der beiden anderen Baracken brannte lichterloh; der dichte Qualm, der aus den Fenstern und dem bereits halb eingesunkenen Dach quoll, verwehrte ihm den Blick auf den Bereich dahinter, aber er hörte noch immer Schüsse. Kein Vernichtungsfeuer, auch nicht das hektische Hin und Her eines wirklichen Gefechts. Seine Männer feuerten nur noch, um die Marines nachhaltig zu motivieren, die Köpfe unten und die Finger von den Waffen zu lassen. Gut. Salid hatte seinen Männern befohlen, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden-wobei er nicht genau definiert hatte, was er für nötig befand – ; nicht aus Menschlichkeit oder Rücksicht, sondern weil ihm Verschwendung jeglicher Art zuwider war; auch die von Menschenleben. Außerdem waren diese Soldaten nicht seine Feinde. Sie standen nur zufällig auf der falschen Seite.

Salid rannte geduckt los. Im Zickzack näherte er sich der brennenden Baracke, schwenkte zehn Meter davor nach rechts und warf sich mit einem Fluch zu Boden, als eine Kugel kaum eine Handbreit vor ihm den Morast hochspritzen ließ. Der Schuß war nicht gezielt, aber ein Zufallstreffer konnte genauso tödlich sein wie ein gezielter Schuß. Er mußte vorsichtig sein.

Vielleicht vor allem, was seine Beurteilung der Lage anging, denn als er den Kopf hob, explodierte der Boden vor ihm ein zweites Mal und überschüttete ihn mit einer Fontäne aus Eiswasser und Matsch. Offensichtlich war der Schuß doch nicht ganz so zufällig in seine Richtung gegangen, wie er bisher angenommen hatte.

Salids dunkle Augen verengten sich zu Schlitzen, während er nach dem Angreifer Ausschau hielt. Er entdeckte ihn fast sofort – einen verschwommenen Schatten in einem der Fenster, der sich in der lodernden Glut dahinter aufzulösen schien. Salid verspürte ein flüchtiges Gefühl von Erstaunen. Die Hitze in der brennenden Baracke mußte unvorstellbar sein. Er fragte sich, woher der Mann überhaupt noch die Energie nahm, auf ihn zu schießen.

Allerdings hielt ihn sein Erstaunen keinen Moment davon ab, seine eigene Waffe zu heben und auf den Marine zu feuern. Der Mann warf sich blitzschnell zur Seite, und der Schuß ging harmlos an ihm vorbei. Salid korrigierte die Richtung des Gewehrlaufes um einige Millimeter und drückte noch einmal ab. Die Kugel schlug in das Holz neben dem Fensterrahmen, ganz genau dort, wo der Amerikaner stehen mußte, und fetzte ein paar Holzsplitter heraus. Fast in der gleichen Sekunde erschien der Schatten erneut vor den Flammen. Salid hörte den Schuß nicht einmal, aber diesmal lag der Einschlag so nahe, daß er den heißen Luftzug des Geschosses spüren konnte.

Salid fluchte, schoß ebenfalls und registrierte befriedigt, wie sich der Mann wieder hinter seine Deckung zurückzog. Blitzschnell drehte er das Gewehr zur Seite, schraubte mit hastigen Bewegungen den Schalldämpfer ab und ließ ihn achtlos in den Morast fallen. Während er auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins, die das Geschehen vollkommen unbeteiligt beobachtete und wertete, begriff, daß er schon

wieder einen Fehler gemacht hatte, indem er den Schalldämpfer auf der Waffe ließ, der im Wald vielleicht nützlich gewesen war, dem 03 aber hier zu viel von seiner Durchschlagskraft und Zielsicherheit nahm, zielte er bereits erneut und drückte dreimal rasch hintereinander ab. Diesmal konnte er sehen, daß der kurze Feuerstoß die dünne Bretterwand durchschlug. Ein Schatten erschien in der Fensteröffnung. Salid richtete das Gewehr auf seinen Kopf, drückte aber nicht ab.

Es war auch nicht nötig. Der Mann stand noch eine Sekunde lang reglos da, wankte plötzlich – und kippte nach vorne. Das Mr6 entglitt seinen Fingern und fiel in den schmelzenden Schnee vor der Baracke, als der Marine in der Fensterbrüstung zusammenbrach. Salid sah, daß der Rücken seiner Uniformjacke bereits schwelte.

Rasch richtete er sich auf und lief weiter. Auf den nächsten zwanzig Schritten gab ihm der Rauch Deckung, dann lag das letzte Stück des Weges offen vor ihm. Salid rannte im Zickzack weiter, duckte sich, sprang nach rechts, links, vor und zurück und tat alles, um kein sicheres Ziel zu bieten, falls einer von Uncle Sams Neffen etwa auf die Idee kam, seine hehren Prinzipien zu vergessen und einem flüchtenden Mann in den Rücken zu schießen.

Aber niemand feuerte auf ihn. Unbehelligt erreichte Salid den Hubschrauber, umrundete ihn und kletterte in die Kanzel. Das Peitschen der Schüsse und das Prasseln und Knistern der Flammen drang plötzlich nur noch gedämpft an sein Ohr.

Hinter den Kontrollen des Helikopters saß ein junger Mann imTarnanzug und mit dem dunklen Gesicht eines Orientalen. Eines ziemlich nervösen Orientalen, wie Salid besorgt registrierte.

»Was stimmt nicht?« fragte er.

»Nichts«, antwortete der Pilot nervös. »Es ist nur … ich kenne diesen Typ nicht. Nicht genau. Die Instrumente sind anders als bei den Maschinen, die ich bisher geflogen habe.«

»Ich denke, du kannst einen Helikopter fliegen?« fragte Salid.

»Das kann ich auch! « verteidigte sich der Pilot. Er sprach hastig, in einemTon, der seinen Worten viel von ihrer Glaubwürdigkeit nahm. »Aber ich habe bisher nur russische Maschinen geflogen. Diese hier ist anders.«

Er streckte die Hand nach einem Schalter aus, zögerte und legte schließlich einen anderen um. Zu dem guten Dutzend winziger Kontrollämpchen auf dem Armaturenbrett vor ihm gesellte sich ein weiteres.

»Kannst du es, oder kannst du es nicht?« fragte Salid. Seine Stimme klang ganz ruhig. Er empfand nicht einmal wirklichen Zorn. Er würde den Mann zur Verantwortung ziehen, ebenso wie den, der ihm diesen Piloten vermittelt hatte; aber später. Im Moment zählte nur, daß sie hier wegkamen, und das schnell. Ihr Zeitplan war gut, aber sehr eng. Sie konnten sich keine Verzögerungen leisten. Alles in allem waren seit dem ersten Schuß gut vier Minuten vergangen, und wahrscheinlich würden auf der nicht einmal dreißig Kilometer entfernten Rhein-MainAir-Base jetzt schon die Alarmsirenen gellen und die Besatzungen zu ihren Hubschraubern hasten.

Statt zu antworten, betätigte der Mann eine Anzahl weiterer Schalter. Salid hörte ein feines Singen, das rasch lauter wurde. Gleichzeitig begannen sich die Rotorblätter über der durchsichtigen Kanzel zu drehen; langsam, aber schneller werdend. Salid spürte Erleichterung, aber nicht sehr viel. Noch waren sie nicht in der Luft. Und vor allem noch nicht wieder unten.

Er blickte an dem Piloten vorbei nach draußen. Das Feuer hatte weiter um sich gegriffen. Die Baracke brannte jetzt wie ein Scheiterhaufen. Die Glut war so hell, daß sie ihm dieTränen in die Augen trieb. Dort drinnen lebte niemand mehr.

Durch den Rauch kamen zwei Gestalten in gefleckten Tarnanzügen auf die Maschine zu. Eine von ihnen stolperte plötzlich, fiel auf die Knie und hob in einer grotesk langsam anmutenden Bewegung die Hände an das Gesicht. Wo ihr rechtes Auge gewesen war, gähnte jetzt ein blutiger Krater. Der zweite Mann rannte unbeeindruckt weiter, umrundete die

Maschine und quetschte sich an Salid vorbei auf die schmale

hintere Sitzbank.

»Los! « befahl Salid.

Der Pilot zögerte einen winzigen Moment. Sie waren zu sechst gekommen, jetzt waren sie noch drei. Aber ein einziger Blick Salids brachte ihn sehr rasch dazu, mit beiden Händen den Steuerknüppel zu umklammern und hastig die Pedale zu betätigen.


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