Nachdem Bruder Antonius ein gutes Drittel seiner verbliebenen Lebenszeit mit diesen Gedanken – die er übrigens schon unzählige Male gedacht hatte – zugebracht hatte, fiel ihm auf, daß Sebastian ihm bisher eine Antwort schuldig geblieben war. Er wiederholte seine Worte, fuhr aber auch gleichzeitig fort: »Du hättest sie nicht herbringen dürfen, Bruder. Du kennst die Regeln dieses Ortes. Niemand darf ihn betreten, der nicht das Gelübde abgelegt hat. Haben sie das Gelübde abgelegt?«

Die Frage war natürlich nichts als reine Rhetorik, eine jener feinen Spitzen, die sich Antonius manchmal gestattete und für die er dann regelmäßig mit endlosen Vaterunsern und Geißelungen bezahlte. Trotzdem antwortete Sebastian darauf: »Nein. Ich fürchte, der Mann ist nicht einmal Christ. Jedenfalls glaubt er es. Aber sie haben nichts gesehen, was uns gefährlich werden könnte. Sie waren zuTode erschöpft und froh, daß ich ihnen geholfen habe. «

Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, nämlich die, ob er sie etwa halb erfroren im Wald hätte zurücklassen sollen, verbiß er sich. Aber Bruder Antonius las sie deutlich in seinen Augen. Sebastian neigte zur Aufsässigkeit. Und in letzter Zeit immer mehr. Antonius dachte diesen Gedanken ohne Zorn – dieses Gefühl war ihm fremd – aber vollerTrauer. Sie würden sich bald von Sebastian trennen müssen. Das Gift, das er bei seinen Besuchen in der Welt draußen einatmete, begann zu wirken.

»Ich werde sie ins Dorf bringen«, fuhr Sebastian fort. »In einer halben Stunde sind sie nicht mehr hier. Und in einer weiteren Stunde haben sie uns vergessen. Sie haben selbst genug Probleme.«

Bruder Antonius hob wortlos die Augenbrauen. Daß Bruder Sebastian die Probleme der beiden erwähnte, bewies, daß er von ihnen wußte. Er belastete sich mit Dingen, die ihn nichts angingen. Ihre Aufgabe war einfach zu wichtig, als daß das Schicksal einzelner eine Rolle spielen durfte.

Sebastian begriff seine Verfehlung wohl im gleichen Moment, in dem ihm die Worte herausgerutscht waren, denn er biß sich auf die Unterlippe und senkte den Blick. Aber er war klug genug, nichts mehr zu sagen.

Der weißhaarige Abt sah ihn lange und vollerTrauer an. Ja, sie würden sich von ihm trennen müssen. Bald. Vielleicht eher, als er bisher geglaubt hatte. Eher als von seinem Vorgänger, der wiederum der Verlockung eher erlegen war als sein Vorgänger.

Das Gift schien stärker zu werden – oder die Menschen wurden schwächer.

Sebastians Blick machte Antonius klar, daß er all dies wußte, und dieses Wissen wiederum machte Antonius noch trauriger. Wortlos wandte er sich um und trat auf das große Holzkreuz zu, das an der östlichen Wand des Gebetsraumes befestigt war.

Er hatte noch vier Minuten zu leben.

»Ich glaube es einfach nicht!« sagte Astrid, als sie zurückkam, kopfschüttelnd mehrma ls hintereinander. Sie roch nicht gut, ein bißchen säuerlich. Offenbar hatte sie sich ziemlich heftig übergeben, und sie mußte es wohl selbst spüren, denn sie war sorgsam darauf bedacht, einen gewissen Abstand zu ihm einzuhalten. Trotzdem fuhr sie in beina he fröhlichem Ton, geradezu aufgekratzt, fort: »Das darf wirklich nicht wahr sein. Ich wußte gar nicht, daß es so etwas noch gibt!«

»Was wußtest du nicht?« fragte Brenner.

Astrid deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Ein Plumpsklo«, sagte sie. »Eine n richtigen Donnerbalken haben die hier. «

»Was hast du erwartet?« fragte Brenner. »Ein komplett ausgestattetes Bad mit Whirlpool und Sauna?«

»Natürlich nicht. Aber das hier … « Ihre Entdeckung schien Astrid über die Maßen zu faszinieren. »Ich wußte nicht, daß sie so primitiv leben. Ich konnte nicht einmal einen Lichtschalter entdecken.«

»Ich bezweifle, daß sie überhaupt elektrisches Licht haben«, sagte Brenner. Eigentlich war er sogar sicher, daß sie keines hatten. Es hätte einfach nicht hierher gepaßt.

»Vielleicht«, sagte Astrid. »Aber das hier … verrückt.« Sie ging wieder zurTür und öffnete sie. »Dieses ganze alte Gemäuer könnte glatt aus der Steinzeit stammen. Ich frage mich, was sie eigentlich hier tun.«

Das fragte sich Brenner schon seit einer geraumen Zeit und mit wachsender Verwirrung. Das einzige, was er genau wußte, war, daß das hier kein normales Kloster war, sondern … Er wußte es nicht. Und er war auch ziemlich sicher, daß er sich jede entsprechende Frage an Bruder Sebastian sparen konnte. »Beten, nehme ich an«, sagte er schließlich. »Und was fromme Männer in einem Kloster eben noch so tun.«

Die Antwort stellte Astrid offenbar ebensowenig zufrieden wie ihn selbst. Sie zog eine Grimasse, schob dieTür noch weiter auf und machte einen halben Schritt, so daß sie noch halb im Raum, halb aber auch schon außerhalb war.

»Laß das«, sagte Brenner. »Wir haben Sebastian versprochen, hier zu warten.«

»Genaugenommen hast du es ihm versprochen«, antwortete Astrid. »Außerdem – stell dich nicht so an. Ich will schließlich nichts stehlen, sondern mich nur umsehen, das ist alles.«

»Bitte tu das nicht«, sagte Brenner noch einmal. »Ich habe ihm mein Wort gegeben, und das sollte auch für dich gelten.« Natürlich hätte er ebensogut mit dem Türrahmen sprechen können – und strenggenommen tat er das auch, denn Astrid war bereits weitergegangen und hatte sich nach rechts gewandt, so daß er sie nicht mehr sah.

Mit einer Mischung aus Resignation und allmählich müde werdendem Zorn folgte er ihr. Er konnte sie schließlich schlecht mit Gewalt zurückhalten.

Astrid hatte sich bereits ein paar Schritte von derTür entfernt und fast den Durchgang zum Innenhof erreicht, als er sie einholte. Brenner war mittlerweile beinahe so weit, sie doch mit Gewalt zurückzuhalten, aber gerade, als er die Hand heben wollte, um nach ihr zu greifen, blieb sie von sich aus stehen.

Vielleicht, weil es vor ihr nicht viel zu sehen gab; zumindest nichts Interessantes. Hinter dem Torbogen erstreckte sich ein rechteckiger Innenhof, der in seiner Schlichtheit schon fast wieder majestätisch wirkte – Astrid hätte ihn wahrscheinlich als langweilig bezeichnet. Er war nicht sehr groß, und es gab nur drei oder vier Türen, die in die angrenzenden, aus gewaltigen Quadern errichteten Gebäude führten. Auf der gegenüber liegenden Seite gewahrte Brenner eine Anzahl schmaler, tief

ein geschnittener Fenster, hinter denen man eine Bewegung zu erahnen glaubte. Der Hof war mit großen, sorgsam geglätteten Natursteinen ausgelegt, und die Dächer bestanden aus schwerem Schiefer, dem ungezählte Jahrhunderte eine silberne Patina verliehen hatten. Alles an diesem Gebäude erschien übermäßig groß und wuchtig. Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür, dachte Brenner. Wenn ihn sein hobbymäßig erworbenes Wissen um Architektur und Festungsbau nicht im Stich ließ, dann mußte diese sonderbare Mischung aus Burg und Festung aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert stammen, einer Zeit, in der es noch nicht nötig gewesen war, sich vor Kanonen und Mörsern hinter immer dicker werdenden Wänden zu verstecken. Um so mühsamer mußte es dafür gewesen sein, Hunderte und Aberhunderte Tonnen von Steinquadern hierherzuschaffen; denn das Baumaterial stammte eindeutig nicht aus dieser Gegend.

»Komm«, sagte er. »Laß uns zurückgehen. Hier gibt es nichts zu sehen. «

Astrid zögerte, wenn auch nur eine Sekunde und wahrscheinlich aus dem einzigen Grund, daß sie ihm aus Prinzip nicht sofort gehorchen wollte. Schließlich nickte sie, drehte sich mit einem resignierenden Seufzen herum – und hob überrascht den Kopf.

»Was ist das?«

»Was ist was? « Auch Brenner lauschte, im ersten Moment allerdings vergeblich. Doch dann hörte er es auch: einen fernen, fast regelmäßigen Laut, der fremd und zugleich vertraut klang – so als würde jemand weit entfernt in einem großenTopf Popcorn machen. Sehr weit entfernt und in einem sehr großen Topf.

Astrid ging mit raschen Schritten an ihm vorbei und in das Torgewölbe zurück. Das Geräusch hielt noch einige Sekunden lang an und brach dann ab, kaum daß sie den halben Schritt zur Brücke hinter sich gebracht hatten.


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