Johannes lachte – nicht sehr laut, aber es klang herzhaft und sehr warm. Seine Stimme war älter als die der Schwester, aber nicht älter als Brenners. »So ungefähr«, sagte er. »Aber lassen Sie sich davon nicht irritieren. Außerdem bin ich nicht im Dienst, «

»Das ist gut«, sagte Brenner. »Ich brauche nämlich keinen Beichtvater. Ich habe noch nicht vor zu sterben.«

Diesmal lachte Johannes nicht. Selbst Brenner war ein wenig erstaunt über den leisen, scharfen Unterton in seiner Stimme. Seine Verwirrung war fort, aber dafür machte sich ein Gefühl von Feindseligkeit in ihm breit, das er sich gar nicht erklären konnte.

»Ich sagte doch, ich bin nicht im Dienst«, sagte Johannes nach einer Weile. »Ich war schon auf dem Weg nach Hause, als ich die Nachtschwester getroffen habe. Sie hielt es für eine gute Idee, wenn ich noch einmal bei Ihnen vorbeischaue. Aber ich gehe wieder, wenn Sie nicht reden wollen.«

»Nein«, antwortete Brenner hastig. »Bitte entschuldigen Sie, Pater. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen.«

Die Schritte umkreisten das Bett, und er hörte, wie ein Stuhl hochgehoben und scharrend herangezogen wurde. »Also gut«, sagte Johannes. »Wenn wir damit fertig sind, uns gegenseitig zu entschuldigen, könnten wir uns ein bißchen unterhalten. Wenn Sie wollen, heißt das.«

Eigentlich wollte Brenner das nicht. Er konnte es sich nicht erklären, aber er empfand noch immer ein grundloses, aber sehr heftiges Mißtrauen gegen die körperlose Stimme des Geistlichen. Warum?

Das Gefühl war so stark, daß es sein schlechtes Gewissen weckte – schließlich hatte der Mann ihm nichts getan, sondern war im Gegenteil sehr freundlich zu ihm gewesen. Er opferte immerhin einen Teil seiner Freizeit, was für jemanden mit seinem Beruf vielleicht nicht selbstverständlich war, auch wenn alle Welt es erwarten mochte. Brenner glaubte nicht, daß Krankenhausgeistliche über sehr viel Freizeit verfügten.

»Ich möchte schon«, sagte er zögernd. »Ich fürchte nur, daß… nun, ich bin nicht unbedingt besonders bibelfest.« Johannes seufzte. »Warum glaubt eigentlich alle Welt, daß wir nur über die Bibel und den Sinn des Lebens reden können?« fragte er. »Das muß wohl der Fluch meiner Kutte sein.« »Tragen Sie denn eine?« fragte Brenner.

»Nein. Bei uns gibt es das nicht. Sehen …« Johannes stockte, schwieg für eine oder zwei Sekunden und fuhr dann in deutlich betroffenem Tonfall fort: »Verzeihung. Ich hatte für einen Moment vergessen, daß … Sie nichts sehen.«

»Das macht nichts«, log Brenner. Es klang nicht besonders überzeugend, und er gab sich auch keine Mühe, so zu tun. »Man gewöhnt sich dran, wissen Sie? Es ist ja nicht für lange. Ich kann heute schon besser sehen als gestern. Und gestern etwas besser als vorgestern.« Das klang noch weniger überzeugend. Johannes sagte nichts dazu, aber irgend etwas an seiner Art zu schweigen irritierte Brenner. Nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »In ein paarTagen ist alles wieder in Ordnung. Wenigstens … hoffe ich das.«

»Das klingt überhaupt nicht überzeugt«, sagte Johannes geradeheraus. Er hatte eine recht eigenwillige Art, seinen Job zu tun, fand Brenner. Aber zugleich auch eine, die ihm gefiel. Bisher hatte er sich hartnäckig geweigert, mit einem Geistlichen zu sprechen, obwohl das das erste gewesen war, was sie ihm angeboten hatten, kaum daß er wieder richtig zu sich gekommen war. Schließlich war das hier ein kirchlich verwaltetes Krankenhaus. Das war das zweite gewesen, was sie ihm gesagt hatten.

»Sind Sie hier, um meine Depressionen zu pflegen oder um mich aufzuheitern?« fragte Brenner. Er lächelte. »Nein, keine Sorge – das wird schon wieder. Es geht eben nur … langsam. Man ist ziemlich hilflos, wenn man nichts sehen kann. Und man kommt auf die seltsamsten Gedanken.«

»Seltsame Gedanken?«

»Nichts Bestimmtes«, antwortete Brenner ausweichend. Es tat ihm bereits leid, daß er überhaupt von demThema angefangen hatte. »Der ganze sinnlose Kram eben, der einem durch den Kopf geht, wenn man ans Bett gefesselt daliegt und vor Langeweile fast stirbt.«

»Bekommen Sie keinen Besuch?«

»Wer sollte mich schon besuchen?« antwortete Brenner. Es hatte nicht wehleidig klingen sollen, aber er hörte selbst, daß genau das der Fall war.

»Keine Verwandten, Freunde … Kollegen?«

»Doch«, antwortete er, hastig und eindeutig im Tonfall einer Verteidigung. »Aber ich wollte nicht, daß man sie benachrichtigt. «

»Warum nicht?«

»Meine Mutter ist fast siebzig und seit zehn Jahren herzkrank«, antwortete Brenner. »Ich wollte nicht, daß sie sich unnötig aufregt. Und mein Vater ist schon lange tot.«

Johannes hatte seinen Tonfall wohl richtig gedeutet und ließ die Frage nach Freunden und Kollegen diskret fallen. Für einige Augenblicke wurde es still; auf eine sehr ungute, bedrohliche Art. Die Dunkelheit schien näher an ihn heranzukriechen, und Brenner fühlte sich sehr allein. Johannes hatte es nicht gewußt und ganz sicher nicht beabsichtigt, aber seine Frage hatte eine Tür in Brenners Gedächtnis geöffnet, die er bisher sorgsam verschlossen gehalten hatte. Er wollte nicht an seine Familie denken, auch nicht an Freunde, die er praktisch nicht hatte, und erst recht nicht an seine Kollegen, mit denen er – wenn überhaupt – in einer Art zähneknirschendem Burgfrieden lebte. Natürlich hatte er daran gedacht – ebenso wie an das Sterben, seinen Unfall, das Feuer … Drei Tage waren eine lange Zeit, wenn man nichts anderes zu tun hatte, als dazuliegen und zu denken.

»Möchten Sie darüber reden?« fragte Johannes nach einer Weile.

»Über meine Familie?«

Er konnte das Kopfschütteln des Paters hören. »Ihren Unfall. Manchmal erleichtert es, über die Dinge zu reden.«

Er konnte also doch nicht aus seiner Haut, dachte Brenner. Einmal Seelsorger, immer Seelsorger, selbst wenn man nur mal eben auf dem Nachhauseweg bei einem Patienten vorbeisah, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten. Aus irgendeinem Grund wirkte dieser Gedanke jedoch beruhigend auf ihn.

»Ich kann mich kaum erinnern«, sagte er. »Es muß ziemlich schlimm gewesen sein, aber … « Er suchte einen Moment nach Worten und rettete sich schließlich in ein Achselzucken. »lm

Grunde weiß ich nicht mehr darüber als das, was mir die Polizei erzählt hat.«

Das war eindeutig nicht die Wahrheit. Er erinnerte sich an eine Menge, aber er konnte nicht genau sagen, was davon wirklich geschehen war und was nicht. Einiges davon war so bizarr, daß es nur Einbildung sein konnte. Es war mit seinem Gedächtnis wie mit seinem Augenlicht – sie hatten ihm gesagt, daß es zurückkehren würde, aber es war ein langsamer Prozeß, voller Qual und Ungewißheit. Und es gab noch einen Unterschied: Er sehnte es nicht annähernd so sehr zurück wie sein Augenlicht. Vielleicht überhaupt nicht.

»Es heißt, Sie hätten großes Glück gehabt.« Johannes schien zumindest eine menschliche Schwäche zu haben – er war neugierig.

Brenner lächelte beinahe gegen seinen Willen. »Fünfunddreißig Stufen kopfüber eine Steintreppe hinunterstürzen und sich dabei nicht einen einzigen Knochen zu brechen ist ziemliches Glück, denke ich«, sagte er. »Jeder Stuntman wäre neidisch darauf – jedenfalls hat man es mir so erzählt.«

»Sie erinnern sich nicht?«

Brenner schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und fügte in bewußt übertrieben gequältem Ton hinzu: »Aber es muß wohl was dran sein. Ich fühle jede einzelne Stufe, auf die ich aufgeschlagen bin. Aber es müssen mehr gewesen sein als fünfunddreißig … so an die viertausend, schätze ich, und ein paar habe ich wohl doppelt genommen.«

Johannes lachte – aber es klang eher pflichtschuldig als wirklich amüsiert, und als er weitersprach, hörte Brenner den gespannten Unterton in seiner Stimme zu deutlich, um ihn sich nur einzubilden. »Was ist eigentlich passiert? Ich meine: nicht nur Ihnen, sondern überhaupt? Ich habe etwas von einem Brand gehört, und einer Explosion … «


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