«Segel Steuerbord achteraus!«meldete der Ausguck.
Neale eilte herzu und rief auf ein kurzes Nicken Bolithos:»Alle Mann an Deck, Mr. Pickthorn! Wir gehen sofort über Stag und so hoch an den Wind wie möglich.»
Noch bevor der Erste Offizier sein Sprachrohr angesetzt hatte oder die Bootsmannsmaaten mit schrillenden Pfeifen durchs Mannschaftslogis rannten, stellte Neale schon seine Berechnungen an, obwohl er den Neuankömmling noch gar nicht sehen konnte.
Bolitho beobachtete, wie die Seeleute und Soldaten durch die Luken hasteten und auf beiden Seitendecks entlangrannten, bis sie von den Decksoffizieren und Steuerleuten auf ihre Stationen eingewiesen wurden.
«Es wird schon heller, Sir«, sagte Neale.»Bald werden Sie…»
«Bemannt die Brassen! Klar zur Wende!»
«Hartruder!»
Mit wild schlagenden Rahen und Segeln, mit Blöcken, in deren Scheiben die Taue kreischten wie Vögel in Todesnot, drehte Styx schwerfällig durch die Seen, wobei Spritzwasser bis zu den Seitendecks einstieg und die an den Brassen ziehenden Seeleute wie mit Schrotkörnern beharkte.
«Voll und bei, Sir! Kurs Südwest zu West!»
Unter Neales wachsamen Blicken wurde das Schiff wieder unter Kontrolle gebracht; es krängte so stark, daß die Stückpforten an der Leeseite fast eintauchten.
«Hinauf mit Ihnen, Mr. Kilburne, und nehmen Sie ein Fernrohr mit«, befahl Neale. Und fügte hinzu, ans Achterdeck im allgemeinen gewandt:»Wenn's ein Franzose ist, erledigen wir ihn, ehe er sich an der Küste verkriechen kann.»
«Große Worte«, murmelte Browne.
Bolitho spürte, daß Allday neben ihm wartete, und hob die Arme, damit der stämmige Bootsführer ihm den Säbel an den Gürtel schnallen konnte. Allday schien plötzlich gealtert zu sein, obwohl er gleich alt war wie Bolitho. Aber die unteren Decks hatten an Komfort nicht viel zu bieten. Selbst für den Bootsführer des Ad-mirals konnte das Leben nicht immer leicht sein dort unten; aber Allday hätte das als erster eifrig abgestritten, genauso wie er verletzt und wütend reagiert hätte, wenn Bolitho ihn nach Falmouth abkommandiert hätte, wo ihn wohlverdiente Bequemlichkeit und Sicherheit erwarteten.
Allday bemerkte Bolithos prüfenden Blick und grinste träge.»Ich kann diesen Milchbärten immer noch das Zittern beibringen,
Sir!»
Bolitho nickte bedächtig. Er wußte, wenn es einmal soweit sein würde, dann an einem Tag wie diesem, wenn Allday wie schon so oft die alte Familienwaffe brachte und einen dummen Witz dabei machte, den Neale als Außenseiter nicht mit ihnen belächeln konnte.
Bolitho hob den Blick zum Besanmasttopp, wo seine Flagge so steif auswehte, als sei sie aus bunt bemaltem Metall.
Schließlich riß er sich ärgerlich zusammen. Wenn Beauchamp einen anderen Admiral als ihn mit diesem Auftrag betraut hätte, wäre es ihm auch nicht recht gewesen.
Allday spürte Bolithos Stimmungsumschwung und zog sich beruhigt zurück.
Auf dem Achterdeck hoben sich mehrere Teleskope wie kleine Kanonenrohre, als Kilburnes Stimme hoch und dünn aus dem Masttopp erklang:»An Deck! Es ist ein britisches Schiff, Sir!«Dann eine kleine Pause, während der Midshipman oben wohl mit einer Hand das Signalbuch aufschlug.»Und zwar Phalarope, 32 Geschütze, unter Kapitän Emes, Sir!»
«Herr im Himmel«, murmelte Allday.
Mit verschränkten Armen wartete Bolitho, bis sich Styx wieder auf einen Wellenkamm hob und er die ferne Segelpyramide auf konvergierendem Kurs sehen konnte. Er hatte gewußt, daß sie an diesem Tag eintreffen würde; als die Leute vorhin an Brassen und Schoten geeilt waren, hatte er den Anlaß dafür vorausgeahnt.
Neale ließ den Blick nicht von ihm.»Ihre Befehle, Sir?»
Bolitho wandte sich um und sah die bunten Flaggen sich an der Signalrah entfalten: Die beiden Schiffe tauschten ihre KennNummern aus, nachdem sie einander auf den Punkt getroffen hatten. Für fast alle in der Mannschaft bedeutete dies eine willkommene Ablenkung, Unterstützung durch zusätzliche Feuerkraft.
«Bitte drehen Sie bei, sobald es Ihnen paßt«, wies Bolitho seinen Flaggkapitän an.»Und signalisieren Sie an — «, der Name wollte ihm nicht so leicht über die Zunge,»- an Phalarope, daß ich umgehend an Bord komme.»
«Aye, Sir.»
Bolitho ließ sich vom Midshipman der Wache ein Teleskop geben und ging zur Luvseite des Achterdecks hinüber. Dabei war er sich jeder seiner Bewegungen bewußt, als sei er ein Schauspieler auf der Bühne.
Mit angehaltenem Atem wartete er, bis das Schiff unter ihm vorübergehend ruhig lag. Und da war sie. Ihre Rahen schwangen schon herum, die Bramsegel und das Großsegel wurden mit Gewalt gebändigt, bis sie sich folgsam auf dem neuen Bug überlegte. Bolitho bewegte das Fernrohr um ein winziges Stück und erkannte — ehe der Bugspriet drüben wieder in einer Wolke von Gischt verschwand — die vertraute Galionsfigur: den vergoldeten Vogel auf dem Delpin.
Sie war noch die alte, und trotzdem stimmte etwas nicht mit ihr. Stirnrunzelnd bewegte Bolitho das Teleskop, bis er die Seeleute drüben wie Ameisen auf den Webeleinen und Seitendecks Laufplanken ausschwärmen sah, das Blau-Weiß der Offiziersuniformen neben dem Ruder erkannte.
Veraltet, das war's, was ihn an ihr störte. Wäßriges Sonnenlicht glänzte auf der hohen Kampanje der Fregatte, und Bolitho sah im Geiste wieder das feine, vergoldete Schnitzwerk vor sich, geschaffen von Meistern ihres Fachs. Ornamente aus einem anderen Jahrhundert. Neubauten wie Styx prunkten heutzutage nicht mehr mit solchen pompösen Accessoires, sie waren auch äußerlich zweckmäßiger und nüchterner, ganz auf die Erfordernisse der Seeschlacht oder einer Verfolgungsjagd konstruiert.
Neale ließ sein Fernrohr sinken und sagte heiser:»Alle Teufel der Hölle, Sir, aber mir kommt es vor wie gestern. Als würde man sich selbst zuschauen.»
Bolitho sah zu Allday hinüber, der an den Finknetzen stand, die Fäuste geballt, und der schnell segelnden Fregatte entgegenstarrte, bis ihm der Wind die Tränen in die Augen trieb.
Trotzdem zwang sich Bolitho, wieder hinüberzusehen. Für ihr Alter war sie noch recht flott, reagierte auf den Anblick des Flaggschiffs genauso prompt wie damals, als sie unter Bolithos Kommando nach Antigua gesegelt war.
Neale rief:»Lassen Sie beidrehen, Mr. Pickthorn! Und die Gig aussetzen!»
Browne erkundigte sich:»Werde ich benötigt, Sir?»
«Kommen Sie nur mit, wenn Sie sicher sind, daß Ihnen unterwegs nicht schlecht wird«, antwortete Bolitho.
Allday schritt zur Schanzkleidpforte und wartete, bis die Gig verholt und an den Großrüsten festgemacht war. Neales Bootsführer nickte ihm zu und überließ ihm wortlos seinen Platz an der Pinne. Bolitho sah das alles, ohne es wirklich zu registrieren. Also war die Neuigkeit schon auf dem ganzen Schiff bekannt, wahrscheinlich sogar auf allen Schiffen seines Geschwaders. Er grüßte die Offiziere und Seesoldaten an der Pforte mit einem Griff zum Hut und sagte leise zu Neale an seiner Seite:»Ich werde für uns alle die Bekanntschaft erneuern.»
An wen dachte er dabei? An Allday und Neale, an Herrick daheim in Plymouth, auch an seinen Steward Ferguson, der in der Schlacht bei den Saintes einen Arm verloren hatte. Oder sprach er auch für die anderen, die nie mehr zurückkehren würden?
Dann saß er im Heck der Gig, und die Riemen schlug bereits in die hochgehenden Seen, um das Boot gut frei zu halten von der Bordwand der Fregatte. Allday gab die Kommandos.»Alle Mann — zugleich!«Bolitho sah zu ihm auf, aber Allday hielt den Blick aufs Schiff gerichtet. Sie hatten beide gewußt, daß es so kommen konnte, aber jetzt waren sie befangen.
Bolitho hakte den Halsverschluß seines Bootsmantels auf und schlug ihn so zurück, daß die Goldepauletten mit ihrem neuen silbernen Stern sichtbar wurden.
Die Phalarope war nichts weiter als ein Schiff, das sein mageres Geschwader verstärken sollte, sagte er sich. Aber dann gewahrte er Alldays verkrampfte Schulterhaltung und wußte, er machte sich etwas vor.