Deshalb sagte Herrick vorsichtig:»Die Nicator wird als erste fertig, Sir. Der Rest des Geschwaders sollte bis September einsatzbereit sein, wenn diese Räuber in der Werft ein Einsehen haben.»
«Und was ist mit der Styx? »
Bei der Frage nach der einzigen Fregatte des Geschwaders, die das Gefecht überlebt hatte, trat ein geistesabwesender Blick in Herricks Augen. Sie hatten damals ihre zweite Fregatte und eine Korvette verloren — ausgelöscht mit allen Menschen, als hätte es sie nie gegeben.
Herrick wartete, bis Ozzard ihre Weingläser wieder gefüllt hatte, dann antwortete er:»Auf Styx wird Tag und Nacht gearbeitet, Sir. Kapitän Neale bringt seine Leute dazu, ein Wunder nach dem anderen zu wirken. «Entschuldigend fügte er hinzu:»Ich selbst bin gerade erst aus Kent zurückgekehrt, Sir, kann Ihnen aber bis heute abend einen vollständigen Bericht über die Benbow geben.»
Bolitho war aufgesprungen, als hielte es ihn nicht länger auf seinem Stuhl.
«Aus Kent?«Er lächelte.»Vergeben Sie mir, Thomas, ich vergaß. Ich hatte zu viele eigene Sorgen im Kopf, um mich zu erkundigen: Wie war die Hochzeit?»
Aber als Herrick den Ablauf der Ereignisse zu schildern begann, der schließlich in der Hochzeit seiner Schwester mit seinem ehemaligen Ersten Offizier den Höhepunkt erreichte, schweiften Bo-lithos Gedanken schon wieder ab. Als er nach der Schlacht von Kopenhagen nach Falmouth zu-
rückgekehrt war, hatte er sich gefühlt wie der glücklichste und zufriedenste Mensch. Denn erstens hatte er überlebt; zweitens konnte er mit seinem Neffen Adam Pascoe und seinem Bootsmann und Freund John Allday ins Haus der Bolithos zurückkehren. Vor allem aber erwartete ihn dort Belinda. Immer noch konnte er nicht an sie denken, ohne jedesmal zu fürchten, daß diese Frau nur ein Traum, ein grausamer Scherz des Schicksals war, aus dem ihn eines Tages die bittere Wirklichkeit reißen würde.
Er hatte die Schlacht, das Geschwader und alles andere vergessen, als sie gemeinsam das alte Haus erforscht hatten, als seien sie hier fremd. Sie hatten Pläne geschmiedet, hatten sich geschworen, nicht eine einzige Minute von Bolithos Landurlaub zu vergeuden.
Es gingen sogar Gerüchte über einen Friedensschluß um. Nach dem jahrelangen Krieg, nach Blockade und gewaltsamem Tod sollten nun endlich Geheimverhandlungen in London und Paris stattfinden, in denen es um einen Waffenstillstand ging, um eine Atempause, bei der keine der kriegführenden Parteien fürchten mußte, an Prestige zu verlieren. Für Bolitho hatte das in seinem Glücksrausch ganz plausibel geklungen.
Aber nach den ersten beiden Wochen war ein Kurier aus London eingetroffen und hatte Bolitho den Befehl überbracht, sich umgehend auf der Admiralität bei Admiral Sir George Beauchamp zu melden, seinem alten Vorgesetzten und Gönner, der ihm seinerzeit das Kommando über das Ostseegeschwader übertragen hatte.
Doch selbst dann noch hatte Bolitho im dramatischen Auftritt des Kuriers nichts weiter gesehen als eine kurze Unterbrechung.
Belinda war mit ihm zur Kutsche geschlendert, hatte sich lachend und Wärme ausstrahlend an ihn geschmiegt, als sie ihm weiter von ihren Plänen erzählte, von den Hochzeitsvorbereitungen während seines Londoner Aufenthalts. Bis zu ihrer Heirat sollte sie im Gutshaus des Richters wohnen, denn in einer Hafenstadt wie Falmouth gab es immer lose Zungen, und Bolitho wollte keinen Schatten auf ihrem gemeinsamen Anfang. Zwar verabscheute er Richter Lewis Roxby von ganzem Herzen und konnte immer noch nicht begreifen, weshalb seine Schwester Nancy ausgerechnet ihn geheiratet hatte. Aber wenigstens würde es Belinda dort nicht langweilig werden, denn er besaß einen Reitstall und ein wachsendes Imperium von Bauernhöfen und Weilern. Roxbys Bedienstete nannten ihn hinter seinem Rücken den» König von Cornwall».
Der Schreck war Bolitho erst in die Glieder gefahren, als er in Admiral Beauchamps Dienstzimmer gebeten wurde. Der Admiral war zwar immer schmal und gebrechlich gewesen, schien an seinen Epauletten und Goldlitzen ebenso schwer zu tragen wie an seiner ungeheuren Verantwortung; wo ein britisches Kriegsschiff im Dienste des Königs segelte, dort war er mit seinen Gedanken. Aber jetzt saß er tief über seinen papierbeladenen Schreibtisch gebeugt und konnte sich zu Bolithos Begrüßung nicht einmal erheben. Obwohl erst sechzig, sah er aus wie ein Hundertjähriger. Nur in seinen hellwachen Augen funkelte immer noch das alte Feuer.
«Wir wollen keine Zeit verlieren, Bolitho. Ihnen bleibt nämlich nur noch ganz wenig und mir überhaupt keine mehr.»
Es war ihm anzusehen, daß mit jedem mühsamen Atemzug, mit jeder verstrichenen Stunde mehr Leben aus ihm entwich. Bolitho war erschüttert, aber auch fasziniert von der Intensität des schmächtigen Mannes, dessen stärkster Charakterzug immer sein Enthusiasmus gewesen war.
«Ihr Geschwader hat sich tapfer gehalten. «Seine klauenartige Hand tastete blindlings über die Papierhaufen.»Zwar haben wir viele gute Männer verloren, aber andere stehen bereit, ihre Stelle einzunehmen. «Sein Kopf sank vornüber, als seien die Worte für ihn zu schwer.»Ich verlange viel von Ihnen, Bolitho, wahrscheinlich sogar zuviel — ich weiß es nicht. Sie haben von dem Waffenstillstandsangebot gehört?«Durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht und reflektierte von Beauchamps tiefliegenden Augen, als brenne Licht in einem Totenschädel.»Diese Gerüchte entsprechen den Tatsachen. Wir brauchen Frieden — zu Bedingungen, die trotz aller Scheinheiligkeit noch akzeptabel sind, damit wir Zeit gewinnen, eine Atempause vor der endgültigen Entscheidung. «Bolitho hatte leise gefragt:»Sie trauen den Franzosen nicht, Sir?»
«Niemals!«Der Ausruf schien Beauchamp die letzten Kräfte gekostet zu haben, denn er konnte erst nach längerer Pause fortfahren:»Die Franzosen wollen uns für sie vorteilhafte Bedingungen aufzwingen. Um Druck auf die Verhandlungen auszuüben, sammeln sie in ihren Kanalhäfen bereits eine Invasionsflotte, meist Prähme und Schuten, und an Land Truppen und Artillerie, die diese Flotte aufnehmen soll. Bonaparte hofft, unser Volk so einzuschüchtern, daß wir Vertragsbedingungen akzeptieren, die nur für ihn von Vorteil sind. Später, wenn die Wunden der Franzosen verheilt, ihre Schiffe ersetzt und ihre Regimenter aufgefüllt sind, wird er den Vertrag zerreißen und uns angreifen. Wenn es erst so weit kommt, haben wir keine zweite Chance.»
Wieder eine Pause, dann murmelte Beauchamp fast tonlos:»Wir müssen England sein Selbstvertrauen zurückgeben. Müssen beweisen, daß wir immer noch angreifen können, nicht nur verteidigen. Einzig auf diese Weise erringen wir eine gleichberechtigte Verhandlungsposition. Jahrelang haben wir die Franzosen zurück in ihre Häfen gescheucht oder sie gestellt und bekämpft, bis sie sich ergeben mußten. Blockade und Patrouille, die KiellinienFormation oder Einzelaktionen — das hat die englische Kriegsmarine mächtig gemacht. Aber Bonaparte ist Infanterist, vom Seekrieg versteht er nichts, und Gott sei Dank hört er nicht auf den Rat von Leuten, die sich auskennen.»
Die Stimme war immer schwächer geworden, und Bolitho hatte schon überlegt, ob er Hilfe herbeirufen sollte.
Doch dann hatte Beauchamp sich ruckartig aufgerichtet und hervorgestoßen:»Wir brauchen eine Geste! Eine Demonstration unserer Stärke. Und unter all den jungen Offizieren, die ich im Laufe der Zeit beobachtete und förderte, haben nur Sie mich nie enttäuscht. «Eine Fingerklaue hob sich und winkte wie eine Karikatur des Mannes, den Bolitho einmal gekannt hatte.»Na ja, jedenfalls nicht in dienstlichen Angelegenheiten.«»Besten Dank, Sir.»
Beauchamp hörte ihn gar nicht.»Machen Sie möglichst viele Ihrer Schiffe möglichst schnell klar zum Auslaufen. Ich habe Instruktionen ausgefertigt, wonach Ihnen das Oberkommando über ein Blockade-Geschwader vor Belle Ile[6] übertragen wird. Weitere Schiffe werden zu Ihrer Verstärkung abgestellt, sobald meine Depeschen den Hafenadmirälen ausgehändigt sind. «Er hatte Bolitho starr angeblickt.»Ich brauche Sie draußen auf See. In der Biskaya. Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen, aber schließlich habe auch ich mein Letztes gegeben.»
6
Belle Ile (en Mer): größte der Bretonischen Inseln