«In Nantes?»
Statt sich verärgert abzuwenden, wie Bolitho erwartet hatte, lächelte der Offizier amüsiert.»Sie scheinen sich in Frankreich aus- zukennen, M'sieu. «Damit reichte er ihnen zwei Flaschen Wein in die Kutsche, grüßte abermals und ritt zu den anderen Offizieren zurück.
Bolitho wandte sich seinen Gefährten zu, schwieg aber, als er den gespannten Ausdruck in Brownes Gesicht bemerkte.»Sehen Sie dort, Sir!»
Neben der Straße standen Bäume und etwas zurückgesetzt einige winzige Katen. Aber beide wurden weit überragt von einem offenbar neu erbauten Turm; an seinem Fuß machten sich noch Steinmetze zu schaffen und meißelten die gelblichbraunen Mauersteine glatt.
Aber Bolithos Blick hing gebannt an der Spitze des Turms, wo sich ein Bündel langer, häßlicher Metallarme scharf vom Himmel abhob.
«Ein optischer Telegraf!»
Plötzlich war alles so sonnenklar, daß er sich wie vor den Kopf geschlagen fühlte. Die Franzosen hatten Semaphoren-Türme! Und deren rauhe Mauern bestanden aus Steinen, die zu Schiff von Spanien herangeschafft wurden. Keinesfalls stammte dieses gelblichbraune Gestein hier aus der Gegend.
Auch in England hatte die Admiralität Semaphoren-Türme errichten lassen, und zwar südlich von London, damit die Befehle aus den Kanzleien schneller, ihren Weg zu den wichtigsten Häfen und Reeden fanden; und die Franzosen hatten dieses Signalsystem schon seit längerem eingeführt. Doch in beiden Ländern hatte man sich bisher auf die Kanalküste beschränkt. Noch war keine Kunde nach England gedrungen, daß die Kette der französischen Signaltürme erweitert worden war. Kein Wunder, daß man an der Biskaya so genau über ihre Bewegungen im Bilde gewesen war: Die Meldungen waren längs der Küste telegrafiert worden, und französische Kriegsschiffe konnten sich rechtzeitig einfinden, um jeden geplanten Angriff auf Häfen oder Schiffahrt vorher abzublocken.
Allday sagte:»Jetzt fällt mir ein, daß ich was Ähnliches gesehen habe, als wir in die Kutsche stiegen, Sir. Aber die Signalarme waren auf einem Kirchturm montiert.»
Bolitho ballte die Fäuste. Natürlich, auch in Portsmouth hatte man den Semaphor auf dem Turm der Kathedrale montiert, von wo aus er den ganzen Spithead-Sund überblicken konnte.
«Hier, öffnet die Flaschen. «Bolitho drückte sie Allday in die Hand.»Und seht nicht zu dem Turm hinüber. Der Leutnant ist nicht dumm.»
Gewaltsam wandte er den Blick ab, als die Semaphorenarme jetzt wie Marionetten zu tanzen und zu winken begannen. In zehn oder zwanzig Meilen Entfernung würde jemand mit einem Teleskop jede einzelne Bewegung entziffern und die Nachricht dann an die nächste Station weitergeben. Bolitho erinnerte sich, daß er von einer neuen Turmkette gelesen hatte, die jetzt London und Deal verband. Schon beim ersten Test hatte sie alle Rekorde gebrochen und ein Signal in nur acht Minuten über die gesamte Distanz von 72 Meilen weitergegeben!
Bestimmt hatte sich der französische Admiral schadenfroh die Hände gerieben, als ihm Styx erstmals an der Ile d'Yeu gemeldet worden war. Danach war alles ein Kinderspiel: Während der Nacht mußte er die drei Kriegsschiffe ausgesandt haben, und als dann Styx, von Phalarope begleitet, über die Invasionsflotte hergefallen war, konnte das französische Geschwader zielstrebig da-zwischengehen. Kein unnützer Zeitverlust, keine Kräfteverzettelung oder Fehldisposition. Nein, wie eine zuschnappende Falle. Bolitho spürte Wut in sich aufsteigen, fast so intensiv wie seine Verzweiflung.
Die Kutsche rollte wieder an; als Bolitho durchs Fenster sah, standen die Telegraphenarme still, als ruhe sich der ganze Turm aus und nicht nur seine Bedienungsmannschaft.
Ein neuer Gedanke quälte Bolitho: daß Herrick Befehl erhalten mochte, mit wehrhafteren Schiffen des Geschwaders einen neuen Angriff zu fahren. Dabei mußte es zu einer Katastrophe kommen. Der Feind konnte rechtzeitig eine Übermacht zusammenziehen und bei der schnellen Nachrichtenübermittlung jede Bewegung Herricks sofort konterkarieren.
Bolitho blickte zum Himmel auf. Es dunkelte schon, bald mußten die Signaltürme nutzlos sein — bis zum nächsten Tagesanbruch.
Dann klapperten die Pferdehufe und eisenbeschlagenen Kutschenräder über Pflastersteine, und Bolitho gewahrte draußen stattlichere Gebäude und einige Lagerhäuser; aus manchen Fenstern fiel trauliches Lampenlicht.
Es widerstrebte ihm, seine Lage als total hoffnungslos zu sehen. 25 Meilen die Loire abwärts, und man war an der See. Obwohl er sich zur Ruhe zwang, fühlte er ein Kribbeln der Erregung zwischen den Schulterblättern. Aber eines nach dem anderen. Alle Hoffnung mußte verblassen, wenn sie nicht von konstruktiven Ideen genährt wurde. Er öffnete das Fenster um einen Spalt und glaubte, den Fluß riechen zu können; im Geist sah er ihn sich dem offenen Meer entgegenschlängeln, wo die Schiffe des Blockadegeschwaders unermüdlich auf Wacht waren.
Allday beobachtete seinen Kommandanten und spürte seine Stimmung. Leise sagte er:»Erinnern Sie sich noch an die Frage, die Sie mir vor kurzem gestellt haben, Sir? Über den Falken an der Kette?»
Bolitho nickte.»Ja, aber wir wollen uns nicht zuviel erhoffen. Es wäre noch zu früh.»
Begleitet von Geschrei und dem Klappern der Ausrüstung bogen die Kutsche und ihre Eskorte durch einen Torweg in einen umfriedeten, viereckigen Platz.
Während die Kutsche bremste, meinte Browne:»Nun sind wir endlich angekommen, Sir.»
Draußen vor den Fenstern zogen Bajonette vorbei, und Bolitho bemerkte einen Offizier mit großer Tasche, der unter einem Türbogen stand und ihnen entgegensah. Also wartete wirklich wie versprochen ein Arzt auf sie. Selbst dieser Befehl mußte von den optischen Telegraphen weitergegeben worden sein. Über die ganze Distanz von vierzig Meilen.
Ihre Tür wurde aufgerissen, mehrere Soldaten bemächtigten sich des stöhnenden Leutnants und trugen ihn ins nächste Gebäude. Als nächster kam Neale dran. Bewußtlos wurde er auf die gleiche Weise abtransportiert.
Bolitho sah die beiden anderen an. Es wurde Zeit.
Der französische Leutnant verbeugte sich höflich.»Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«Sein Ton war verbindlich, aber die bewaffneten Posten hinter ihm ließen den Gedanken an Widerspruch gar nicht erst aufkommen.
Auf der anderen Seite des Hofs traten sie durch eine eisenbeschlagene Tür in einen kahlen, mit Steinen gepflasterten Raum, dessen einziges Fenster vergittert war und außerdem zu hoch in der Wand, als daß man es erreichen konnte. Bis auf eine Holzbank, einen stinkenden Eimer und einen Haufen Stroh war der Raum leer.
Bolitho hatte erwartet, daß man ihn sofort offiziell verhören würde. Aber die schwere Tür schlug mit einem lauten Knall hinter ihnen zu, der von den Mauern widerhallte wie in einem Mausoleum.
Angewidert sah Browne sich um, und selbst Allday schien es die Sprache verschlagen zu haben. Bolitho ließ sich auf die Bank sinken und starrte zwischen seinen Knien auf den Steinboden. Sie waren Kriegsgefangene.
Mit verschränkten Armen wartete der französische Marineleutnant, bis Bolitho mit Alldays Hilfe in seinen Rock geschlüpft war und sein Halstuch zurechtgezupft hatte.
Der übliche Kasernenlärm hatte sie am frühen Morgen geweckt. Das Haupthaus und einige Nebengebäude waren offenbar vom Militär requiriert worden, konnten aber ihre herrschaftliche Vergangenheit nicht verleugnen. Vor der Revolution mußte dies ein stattlicher Landsitz gewesen sein, überlegte Bolitho. Einen kleinen Teil davon hatte er zu sehen bekommen, als er in einen anderen Raum geführt worden war, wo Allday ihn unter den wachsamen Blicken eines Soldaten rasieren durfte.
Bolitho wußte, daß Allday sich jetzt nicht mehr fortschicken lassen würde. Sie mußten einfach das Beste aus ihrer Lage machen, und es war ja auch nicht das erstemal. Aber nach außen hin gab er Allday als seinen Kammerdiener aus, denn wenn man in ihm den Berufsseemann erkannte, wurde er bestimmt von ihm getrennt und zum Rest der Mannschaft verlegt, wo sie auch sein mochte.