Kapitän Neale hatte den günstigen räumen Wind dazu genutzt, seine Leute an und über Deck exerzieren zu lassen. Den ganzen Nachmittag vibrierten die Planken vom Stampfen nackter Füße, erschollen die antreibenden Stimmen von Offizieren und Decksoffizieren, die aus Chaos Ordnung zu schaffen bemüht waren. Was die Mannschaftsstärke betraf, war Neale auch nicht besser dran als die anderen Kommandanten. Von seinen erfahrenen, gut ausgebildeten Leuten waren viele befördert und auf andere Schiffe versetzt worden. Was an verläßlichen Matrosen zurückgeblieben war, hatte er strategisch unter den Neulingen verteilen müssen; von den neuen Leuten waren manche durch den Schock des Gepreßtwerdens oder den abrupten Abschied von der relativ sicheren Gefängniszelle noch so entnervt, daß sie nur mit Schlägen dazu gebracht werden konnten, in den schwankenden Webeleinen aufzuentern.
Bolitho bemerkte Neale, der mit seinem wortkargen Ersten Offizier am Luvschanzkleid des Achterdecks lehnte, das Haar vom Wind ins Gesicht geweht und die Augen überall auf der Suche nach einem Fehler bei der Segelbedienung oder einem Bummelanten, der seinen Befehlen nicht flott genug nachkam. Solche Nachlässigkeiten konnten später Menschenleben kosten, vielleicht sogar das ganze Schiff. Neale war mit seinen Aufgaben gewachsen, obwohl es Bolitho immer noch leichtfiel, in ihm den dreizehnjährigen Seekadetten zu erkennen, dessen Vorgesetzter er einst gewesen war.
Neale entdeckte seinen Admiral und eilte grüßend herbei.
«Binnen kurzem werde ich Segel kürzen lassen, Sir. «Er mußte schreien, um Wind und See zu übertönen.»Aber wir sind heute gut vorangekommen!»
Bolitho schritt zu den Finknetzen und mußte sich kräftig festhalten, als das Schiff wieder einmal nach vorne und abwärts schoß, wobei der Klüverbaum die Gischt wie eine Lanze durchstach. Kein Wunder, daß Adam so ungeduldig auf das Kommando über ein eigenes Schiff wartete; ihm selbst war es nicht anders ergangen. Bolitho sah zu den vollstehenden Segeln auf, zu den Toppsgasten, die mit gespreizten Beinen in den Fußpferden der schwankenden Großrah standen. Ja, das hatte er am meisten vermißt: die Gelegenheit, ein Schiff wie die Styx zu zähmen und seinem Willen zu unterwerfen, sich geschickt mit Ruder und Segeln gegen seinen unbändigen Freiheitsdrang zu behaupten.
Neale hatte ihn beobachtet.»Hoffentlich werden Sie hier nicht allzusehr gestört, Sir?«fragte er.
Bolitho schüttelte den Kopf. Für ihn war es wie ein Aufputschmittel, die beste Arznei gegen alle Sorgen; nur das Hier und Jetzt zählte noch.
«An Deck!«Der Ruf des Ausguckpostens wurde vom Wind verzerrt.»Land in Luv voraus!»
Neale grinste triumphierend und riß ein Fernrohr aus seiner Hal-terung neben dem Ruder. Er stellte es richtig ein und reichte es Bolitho.
«Dort drüben, Sir: Frankreich.»
Bolitho wartete, bis das Deck auf einem Wellenkamm kurz ruhig lag, dann richtete er das Glas auf die Peilung aus. Zwar dämmerte es schon, aber trotzdem konnte er noch den verwischten violetten Schatten erkennen: die Insel Ouessant und irgendwo dahinter Brest. Das waren Namen, die sich tief ins Gedächtnis jedes Seemanns eingebrannt hatten, der hier monatelang im harten Blockadedienst geschwitzt hatte.
Nun konnten sie bald ihren Kurs ändern und Südost laufen, tiefer in den Golf von Biskaya. Doch das war Neales Problem — und nichts im Vergleich zu der Aufgabe, mit der er selbst seine Schiffe konfrontieren mußte. Später.
Innerhalb einer Woche würden Beauchamps Befehle von den betroffenen Stäben bestätigt werden. Die Kommandanten würden ihre Leute aufscheuchen, die Kurse zum Rendezvous mit dem neuen Konteradmiral berechnen. Ihr Ziel war ein Kreuz auf der Seekarte, irgendwo bei Belle Ile. Und innerhalb eines Monats würde man von Bolitho die ersten Aktionen erwarten, die ersten Schläge gegen den in seinem eigenen Lager überraschten Gegner.
Daß Bolitho die vorgeschlagene Taktik so ruhig besprechen konnte, als sei ihr Erfolg eine unumstößliche Tatsache, hatte Browne sichtlich beeindruckt. Aber Browne hatte seine Adjutantenstelle den Beziehungen seines Vaters in London zu verdanken, er war nie durch die harte Schule der Kriegsmarine gegangen. Bolitho dagegen war wie die meisten Marineoffiziere noch als halbes Kind auf sein erstes Schiff gekommen. Binnen kürzester Zeit hatte man ihm beigebracht, eine Barkasse zu befehligen und Autorität auszuüben, einen schwe ren Warpanker im Boot auszubringen, Passagiere oder Waren von und an Bord zu transportieren und später seine Bootsmannschaft im Nahkampf gegen Piraten oder Kaperer zu führen: all dies gehörte zur harten und gründlichen Schulung eines jungen Offiziersanwärters.
Leutnant, Kapitän oder jetzt Konteradmiral — Bolitho war derselbe geblieben, fand sich aber damit ab, daß mit der Beförderung in den Stabsrang alles für ihn anders geworden war. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, sich mit Mut und Wahnwitz zu behaupten und eher Leib und Leben zu riskieren, als vor den Untergebenen Schwäche oder Furcht zu verraten. Auch war es nicht mehr eine Frage des blinden Gehorsams unter allen Umständen, gleichgültig, welch entsetzliche Szenen sich rundum abspielten. Jetzt hatte er über das Schicksal anderer zu bestimmen, und ob sie überlebten oder starben, hing von seinen Fähigkeiten ab, von seiner Auslegung der wenigen Informationen, die er zur Verfügung hatte. Genaugenommen entschied er mit seinem Urteil nicht nur das Geschick der ihm Untergebenen, sondern darüber hinaus — und das hatte Beauchamp ihm klargemacht — auch das Schicksal unzähliger anderer Menschen, vielleicht sogar das des ganzen Landes.
In der Tat, die Marine war eine grausame Lehrmeisterin, dachte Bolitho. Aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Es gab weniger Sadisten und Tyrannen von eigenen Gnaden, denn vor den Breitseiten des Feindes konnte keiner nur mit Großmäuligkeit bestehen. Täglich wuchsen in der Navy neue gewandte Führerpersönlichkeiten nach — Männer wie Neale, dachte Bolitho mit einem Seitenblick auf seinen Flaggkapitän — , die es verstanden, in ihren Leuten Loyalität und Begeisterung zu wecken, wenn sie am dringendsten gebraucht wurden.
Neale schien den prüfenden Blick seines Vorgesetzten nicht bemerkt zu haben.»Um Mitternacht gehen wir auf den anderen Bug, Sir«, sagte er.»Hoch am Wind wird es dann etwas ungemütlicher an Bord, fürchte ich.»
Bolitho lächelte, weil ihm Browne einfiel, der halbtot vor Seekrankheit unten in seiner Kajüte lag.»Dann sollten wir morgen das eine oder andere unserer Schiffe in Sicht bekommen«, sagte er.
«Aye, Sir. «Neale wandte sich um, als ein Midshipman über die nassen Planken heranbalancierte und schnell etwas auf die Schiefertafel neben dem Ruder kritzelte.»Oh, dies ist Mr. Kilburne, Sir, unser Signalfähnrich.»
Der Junge, etwa sechzehn Jahre alt, erstarrte und blickte Bolitho an, als sei er der Leibhaftige.
Bolitho mußte lächeln.»Freut mich, Sie kennenzulernen.»
Da der Fähnrich immer noch dastand wie vom Schlag gerührt, fuhr Neale fort:»Mr. Kilburne hat eine Frage an Sie, Sir.»
Leise sagte Bolitho:»Quälen Sie den Jungen nicht, Neale. Haben Sie denn ein so schlechtes Gedächtnis?«Er wandte sich an Kilburne.»Worum geht's?»
Kilburne stammelte, offenbar überrascht, daß er seinem Admiral Auge in Auge gegenüberstehen und trotzdem noch atmen konnte:»Also, Sir, wir waren alle so aufgeregt, als wir hörten, daß Sie an Bord kommen.»
Mit» alle «meinte er wahrscheinlich die drei anderen Midship-men des Schiffs, dachte Bolitho.
Kilburne fing sich etwas.»Stimmt es, Sir, daß die erste Fregatte, die Sie befehligten, Phalarope war?«platzte er heraus.
Schroff sagte Neale:»Das reicht, Mr. Kilburne!«Entschuldigend wandte er sich an Bolitho.»Bitte um Vergebung, Sir. Ich dachte, der junge Tölpel wollte was ganz anderes fragen.»
Aber Bolitho war die plötzliche Anspannung nicht entgangen.»Worum geht's, Mr. Kilburne?«wiederholte er.»Ich bin immer noch ganz Ohr.»