Erst wurde ein Segel weggenommen, dann ein anderes, aber als das Schiff im zunehmenden Seegang immer stärker stampfte, schickte Dumaresq alle Mann nach oben und ließ sämtliches Tuch außer dem Großmarssegel bergen, damit die Destiny den Sturm beigedreht abreiten konnte.

Dann — wie um zu beweisen, daß er ebenso freundlich wie böse sein konnte — flaute der Wind ab, und als das Tageslicht zurückkehrte, war es bald so warm, daß das Schiff im Sonnenschein trocknete und Dampfwolken von den Decks aufstiegen.

Bolitho exerzierte mit der Steuerbordbatterie von Zwölfpfündern, als Jury meldete, daß er wieder voll dienstfähig erklärt worden sei und nicht mehr im Krankenrevier schlafen müsse.

Bolitho hatte das Gefühl, daß etwas mit ihm nicht stimmte, war aber entschlossen, sich nicht einzumischen. Er sagte:»Der Kommandant erwartet, daß unser Salut der beste sein wird, den sie in Rio je gehört haben. «Er sah einige der halbnackten Seeleute grinsen und sich die Hände reiben.»Deshalb veranstalten wir jetzt einen kleinen Wettbewerb: erste Division gegen die zweite. Für die Sieger gibt's eine Extraration Wein. «Er hatte sich dafür schon die Zustimmung des Zahlmeisters geholt.

Codd stieß seine großen Schneidezähne wie den Schnabel einer Galeere vor und stimmte fröhlich zu:»Wenn Sie bezahlen, Mr. Bolitho? Alles, wenn Sie zahlen!«Little rief:»Wir sind bereit, Sir.»

Bolitho wandte sich zu Jury um.»Sie können die Zeit nehmen. Die Division, die ihre Kanonen als erste ausgerannt hat, und zwar zweimal bei drei Durchgängen, bekommt den Preis.»

Er wußte, daß die Männer schon ungeduldig wurden und mit Handspaken und Taljen hantierten, als bereiteten sie sich auf ein Gefecht vor.

Jury versuchte, Bolithos Blick aufzufangen.»Ich habe keine Uhr,

Sir.»

Bolitho starrte ihn an und bemerkte gleichzeitig, daß der Kommandant und Palliser an der Achterdecksreling standen, um dem Wettkampf der Leute zuzuschauen.

«Sie haben sie verloren? Die Uhr Ihres Vaters?«Er erinnerte sich, wie stolz Jury auf sie gewesen war und wie traurig, als er sie ihm am vorherigen Abend gezeigt hatte.»Erzählen Sie, wie das kam.»

Jury schüttelte unglücklich den Kopf.»Sie ist weg, Sir. Mehr weiß ich nicht.»

Bolitho legte Jury die Hand auf die Schulter.»Warten Sie ab, ich werde mich der Sache annehmen. «Er zog seine eigene Uhr, ein Geschenk seines Vaters.»Nehmen Sie meine.»

Stockdale, der an einer der Kanonen kauerte, hatte alles mitangehört und dabei die Gesichter ringsum studiert. Er hatte noch nie eine Uhr besessen und würde auch kaum je eine besitzen, aber irgendwie begriff er, daß es mit dieser etwas Besonderes auf sich hatte. In der engen Gemeinschaft einer Schiffsbesatzung war ein Dieb gefährlich. Seeleute besaßen zu wenig, um ein solches Verbrechen ungestraft zu lassen. Am besten fing man den Dieb, bevor Schlimmeres passierte, seinetwegen und im Interesse aller.

Bolitho schwenkte den Arm.»Rennt aus!»

Die zweite Division gewann spielend. Das war zu erwarten gewesen, schimpften die Verlierer, denn ihr gehörten Little und Stockdale an, die beiden stärksten Männer an Bord.

Aber als der Wein ausgeteilt war und sie sich mit ihren Bechern im Schatten des Großsegels ausruhten, wußte Bolitho, daß zumindest für Jury der Spaß verdorben war.

Er sagte zu Little:»Lassen Sie die Kanonen wieder festzurren. «Er ging nach achtern. Einige Leute nickten ihm zu, als er an ihnen vorbeikam.

Dumaresq wartete, bis er das Achterdeck erreicht hatte.»Das haben Sie gut gemacht!»

Palliser lächelte bittersüß.»Wenn wir unsere Leute immer mit Wein bestechen müssen, bevor sie die Kanonen bedienen, sind wir bald ein >trockenes< Schiff.»

Bolitho stieß hervor:»Mr. Jurys Uhr ist gestohlen worden, Sir.»

Dumaresq sah ihn ruhig an.»Na und? Was soll ich tun, Mr. Bo-

litho?»

Bolitho bekam einen roten Kopf.»Tut mir leid, Sir. Ich — ich dachte.»

Dumaresq beschattete seine Augen, um drei kleine Vögel zu beobachten, die dicht über der Wasseroberfläche dahinjagten.»Ich kann das Land fast schon riechen. «Er wandte sich wieder Bolitho zu.»Es ist Ihnen gemeldet worden, also kümmern Sie sich darum.»

Bolitho berührte seinen Hut, als der Kommandant und der Erste Offizier ihren Spaziergang auf der Luvseite des Decks wieder aufnahmen.

Er hatte noch eine Menge zu lernen.

VI Eine Frage der Disziplin

Lediglich unter Marssegeln und Klüver — alle anderen Segel waren aufgegeit — glitt die Destiny langsam über das tiefblaue Wasser von Rios äußerer Reede. Es war drückend heiß und kaum genug Wind, um mehr als ein leichtes Kräuseln unter dem Bug hervorzurufen, doch Bolitho spürte die Aufregung und Neugier an Bord, als sie sich den geschützten Ankerplätzen näherten.

Selbst der abgebrühteste Seemann konnte nicht abstreiten, daß der Anblick, der sich ihnen bot, majestätisch war. Sie hatten die Küste aus dem Morgennebel emporwachsen sehen, und nun lag sie ausgebreitet zu beiden Seiten vor ihnen, als wolle sie das Schiff umarmen. So etwas wie Rios großen Bergkegel hatte Bolitho noch nie gesehen. Er machte alle anderen zu Zwergen. Und dahinter gab es — verstreut zwischen üppig grünen Wäldern — weitere Hügel, die mit ihren steilen Gipfeln wie zu Stein erstarrte Wellen aussahen. Helle Strände, schäumende Brandung, und eingebettet zwischen Hügeln und Meer die Stadt; weiße Häuser, kantige Türme und nickende Palmen — welch ein Gegensatz zum Englischen Kanal!

An Backbord entdeckte Bolitho die erste Festungsbatterie unter der portugiesischen Flagge, die nur gelegentlich etwas auswehte und dann im harten Sonnenlicht zu erkennen war. Rio war gut befestigt und besaß genügend Batterien, um auch die kühnsten Angreifer abzuschrecken.

Dumaresq musterte die Stadt und die vor Anker liegenden Schiffe durch ein Fernglas. Er sagte:»Fallen Sie einen Strich ab.«»Kurs West-Nord-West, Sir!»

Palliser schaute auf seinen Kommandanten.»Ein Wachboot nähert sich.»

Dumaresq lächelte knapp.»Der fragt sich bestimmt, was, zum Te u-fel, wir hier wollen.»

Bolitho zupfte sein Hemd von der schweißnassen Haut ab und beneidete die halbnackten Matrosen, die nicht wie die Offiziere in GalaUniformen schwitzen mußten.

Mr. Vallance, der Oberfeuerwerker, musterte bereits die ausgesuchten Geschützbedienungen, um sicherzustellen, daß beim Flaggensalut nichts schiefging.

Bolitho fragte sich, wie viele unsichtbare Augen wohl die langsame Annäherung der englischen Fregatte beobachteten. Ein Kriegsschiff! Was wollte es? Kam es in friedlicher Absicht oder mit Nachrichten über einen weiteren Vertragsbruch in Europa?

«Fangen Sie an mit dem Salut!»

Geschütz für Geschütz krachten die Salutschüsse. In der drückenden Luft blieb der Pulverqualm auf dem Wasser liegen und nahm ihnen die Sicht auf das Land.

Das portugiesische Wachboot hatte mit einigen kräftigen Ruderschlägen um seine ganze Länge gedreht. Es sah aus wie ein großer Wasserkäfer.

Jemand bemerkte:»Er will uns hineinlotsen.»

Die letzte Kanone rollte beim Abschuß zurück, und die Bedienungen beeilten sich mit dem Auswischen der noch rauchenden Rohre und dem Festzurren jeder Waffe, als endgültiges Zeichen ihrer friedlichen Absicht.

Eine Gestalt auf dem Wachboot schwenkte eine Flagge, und als sich die langen Riemen tropfend aus dem Wasser hoben und so verharrten, bemerkte Dumaresq trocken:»Nicht zu weit hinein, Mr. Palliser. Sie trauen uns noch nicht ganz.»

Palliser hob das Sprachrohr an den Mund:»Klar zum Ankern! An die Brassen, Fallen und Schoten!»

Nach festgelegtem Plan eilten die Matrosen und Maaten auf ihre Stationen.

«Los die Schoten!«Pallisers Stimme scheuchte die Möwen auf, die sich nach den Salutschüssen gerade wieder auf dem Wasser niedergelassen hatten.»Gei auf die Marssegel! Laß fallen Klüver!»

Dumaresq sagte:»Es ist soweit, Mr. Palliser. Ankern!«»Ruder nach Luv!«[7]

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7

Im Englischen:»Helm a'lee!«-»Hart nach Lee!«, weil zu der Zeit Ruderkommandos noch auf eine Pinne bezogen wurden, die nach Lee gelegt werden mußte, wenn das Ruderblatt nach Luv weisen sollte (indirektes Ruderkommando). Um den deutschen Leser nicht zu verwirren, ist hier stets das» direkte «Ruderkommando angegeben (Anm. d. Übers.).


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