Betrübt beobachtete Jankel, wie die Tür hinter dem letzten zufiel, wie der Diensthabende sie verschloß und die Kette vorlegte. Die sturen Böcke können herumspazieren und nach Hause gehen! dachte er niedergeschlagen und trottete in den Schlafraum. Dort empfing ihn ohrenbetäubender Lärm. Der Schlafraum war außer sich.
Als er in der Tür stand, fuhr Zigeuner auf ihn los. „Jankel, weißt du, wer uns verpfiffen hat?“
„Na?“
„Goga, der Halunke.“
Goga stand in der Ecke, von der rasenden Menge an die Wand gedrückt. Erschrocken und kraftlos wehrte er die Fäuste von seiner Nase ab. Jankel stürmte zu Goga hin.
„Du Schuft! Wie konntest du das tun, he?“
„A-a-aber, i-ich hab' es d-doch nicht absichtlich g-getan, Jungens!“ jammerte Goga. Flehend hob er die braunen Augen in dem Bestreben, sich zu rechtfertigen. „V-vikniksor hat mich z-zu sich g-geholt und g-gesagt: 'I-ich hörte, d-daß d-du den T-tabak gestohlen hast.' Und d-da d-dachte ich, ihr hättet es gesagt, und hab' es z-zugegeben. Und d-dann fragte er, w-wie wir den T-tabak gestohlen hätten. Und d-da hab' ich gesagt:,Z-zuerst sind Tschornych und K-kossorow hingegangen, d-dann Gromonoszew und z-zuletzt alle anderen.“
„Und z-zuletzt alle anderen!“ äffte Jankel den Stotterer nach. Aber es widerstrebte ihm, den Jungen zu verprügeln — erstens, weil er so dämlich hereingefallen war, und zweitens, weil er sowieso immer Mitleid erweckte.
Jankel spuckte aus, ging weg und warf sich auf seine Pritsche. Auch die anderen zerstreuten sich. Nur Goga blieb weiter in der Ecke stehen — als habe man ihn zur Strafe dahin gestellt. „Was soll nun werden?“ seufzte einer. Jankel wurde von Wut gepackt.
„Jetzt jault ihr mir die Ohren voll, ihr Trantüten! Was werden soll? Was wird, das wird, da gibt es nichts zu jammern. Wenn ihr hinterher flennt, hättet ihr vorher den Tabak nicht klauen sollen!“
„Wer hat ihn denn geklaut?“
„Ihr!“
„Nein, du!“
Jankel blieb die Spucke weg.
„Wieso ich? Ich hab' ihn für mich geklaut, das ging euch nichts an. Was hackt ihr jetzt auf mir herum?“
„Du bist der Anstifter.“ Es wurde still.
Am meisten quälte die Strolche das Bewußtsein, daß ihnen Strafe drohte. Sie barsten beinahe vor Wut. Bei dem geringsten Anlaß würden sie explodieren, sich auf den ersten besten stürzen und ihn verprügeln.
Hätten die Jungen die Strafe schon gekannt, wäre ihnen wohler zumute gewesen — Ungewißheit quält mehr als Erwartung. Zuweilen unterbrach ein trauriger Seufzer die Stille. Dann herrschte wieder nachdenkliches Schweigen.
Jankel lag da und starrte stumpfsinnig zur Decke empor. Er hatte keine Lust zum Nachdenken, außerdem fiel ihm auch nichts ein. Das Geseufze und Gestöhne machte ihn kribblig. „Weshalb haben wir bloß auf den verdammten Jankel gehört!“ brach Spatz schließlich das Schweigen. Seine Stimme klang so verzweifelt, daß Jankel es nicht mehr ertragen konnte. Er hatte das Bedürfnis, Spatz mit gehässigen, bösen Worten zum Weinen zu bringen. Aber er beschränkte sich auf die spöttische Bemerkung: „Setz dich Vikniksor doch auf den Schoß, Spätzchen, und bettle um Verzeihung!“ „Das würde ich auch tun, wenn du nicht wärst!“
„Dussel!“
„Selber einer! Stiftest alle an und liegst jetzt gleichgültig da.“ Jankel wurde wütend.
„Ach, du kurzbeiniger Halunke! Hab' ich dich vielleicht angestiftet?“
„Alle hast du angestiftet!“
„Tatsache, das hat er“, klang es von den anderen Betten. „Ihr seid Halunken, aber keine Kameraden!“ Jankel wußte nicht mehr, was er sonst sagen sollte.
„Mach mal halblang! Von wegen Halunken! Dafür kriegst du eins in die Fresse!“
„Haut mich doch!“
„Das machen wir auch! Du Katzenschinder!“
„Auf ihn mit Gebrüll!“ Das war die Stimme von Spatz. Jankel hörte sie dicht über sich. Er sprang aus dem Bett. „Gib es ihm, Spatz! Feste! Keine Angst, wir helfen dir!“
Die Sache nahm eine gefährliche Wendung. Und wer weiß, was die wütenden Schkider mit Jankel angestellt hätten, wenn der Direktor nicht in diesem Augenblick hereingekommen wäre. Die Jungen sprangen aus den Betten, setzten sich hin und senkten den Kopf. Grabesstille.
Vikniksor ging quer durch das Zimmer, blickte aus dem Fenster, trat dann mitten in den Raum, blieb stehen und sah die Zöglinge prüfend an. Niemand sagte ein Wort.
Ungewißheit quält mehr als Erwartung.
„Jungens!“ Seine Stimme klang ungewöhnlich laut. „Jungens, wir haben euer Vergehen eben im Pädagogischen Rat erörtert. Es ist abscheulich, niedrig, schurkisch — eine Tat, um derentwillen man euch samt und sonders wegjagen, ins Kloster, in die Besserungsanstalt, bringen müßte. Ja, ins Kloster, in die Besserungsanstalt!“ wiederholte Vikniksor, und die Schkider senkten noch tiefer den Kopf. „Aber so einfach haben wir uns die Entscheidung nicht gemacht. Wir haben das Problem gründlich erörtert und erst dann einen Beschluß gefaßt. Wir beschlossen…“
Die Schkider hielten den Atem an. Eine so gespannte Stille trat ein, daß ein zu Boden fallendes Streichholz wie ein Donnergetöse geklungen hätte. Die qualvolle Pause dauerte unerträglich lange. „Und wir beschlossen“, fuhr der Direktor endlich fort, „wir beschlossen… euch überhaupt nicht zu bestrafen…“
Die angstgeladene Stille hielt noch einen Augenblick an. Dann War sie wie abgeschnitten.
„Viktor Nikolajewitsch! Tausend Dank!“
„Wahrhaftig, Viktor Nikolajewitsch?“
„Allerherzlichsten Dank! Es wird nie wieder vorkommen!“ „Bestimmt nicht! Wir danken Ihnen!“
Die Jungen drängten sich um den Direktor, der ihnen plötzlich so gütig, so väterlich vorkam. Lächelnd stand er da und streichelte die gesenkten Köpfe.
Im Überschwang der Gefühle schluchzte plötzlich einer auf, ein zweiter, ein dritter taten es ihm nach, und dann brachen alle in Tränen aus.
Nur Jankel bewahrte noch die Fassung. Aber dann spürte er, daß auch ihm die Tränen kamen. Und es war ganz merkwürdig — er schämte sich ihrer nicht, im Gegenteil, sie schienen die drückende Angst vor der Strafe wegzuschwemmen, und ihm wurde auf einmal leicht ums Herz. Vikniksor schwieg.
Jankel wollte dem Direktor sein Gesicht zeigen, er wollte ihm vorweisen, daß er weinte und daß es richtige Tränen in wirklicher Reue waren.
Doch als er den Kopf hochriß, verlor er gänzlich die Fassung. Vikniksor, der Schrecken der Schkider, Vikniksor, der strenge Schuldirektor, weinte genauso wie er, der Zögling Jankel… So einfach und unerwartet endete die einfach und überraschend entstandene Geschichte von dem japanischen Tabak, das erste schwerwiegende Ereignis in der Entwicklung der Republik Schkid…
DER KLEINE KERL AUS DEM SMOLNY
Der kleine Kerl Zur Kanonier-Insel * Die Schkider baden * „Guten Tag, Kameraden!“ * Kuchen aus Hamburg * Vikniksor hat einen Einfalt * Die Nationalhymne der Republik Schkid.
Die Strolchrepublik Schkid bekam Paten — die Hafenarbeiter. Die Arbeiter vom Handelshafen halfen zunächst mit Geld; damit wurden Lehrbücher und Lebensmittel gekauft. Dann fuhren sie Brennholz an, und als der Sommer kam, stellten sie dem Heim die Kanonier-Insel und das Hafengebiet für Besichtigungen und Ausflüge zur Verfügung.
Die Ausflüge waren für die Schkider ein Fest. Sie brachen schon morgens auf, verbrachten den ganzen Tag im Hafen und kamen erst spätabends befriedigt, wenn auch müde, unter das Dach des alten Hauses an der Alt-Petershofer Allee zurück.
Die Vorbereitungen für den Ausflug auf die Insel nahmen gewöhnlich die ganze Aufmerksamkeit der Schkider in Anspruch. Geschäftig rannten sie umher — einige holten die Mäntel aus der Garderobe, andere packten die „Freßkörbe“, und die übrigen vermochten nur aus lauter Ungeduld nicht stillzusitzen.
Es war deshalb kein Wunder, daß die Jungen eines Sonntags bei den üblichen Ausflugsvorbereitungen gar nicht merkten, wie eine kleine Kindergestalt in einem ziemlich verschlissenen grauen Mantel und einer pfannkuchenartigen Mütze auftauchte. Der kleine, unauffällige Kerl zog den Naseninhalt hoch und staunte die umherrennenden Jungen an. Dann lehnte er sich an den Ofen, um nicht umgestoßen zu werden, und blieb dort unbeweglich stehen, in die Betrachtung seiner Umwelt versunken.