„Türke“, ein waghalsiger, magerer Junge aus der dritten Abteilung, nahm die Herausforderung an. „Ich mach' mit. Fang an.“
Eilfertig mischte Slajonow die verschmierten Karten. Die anderen Jungen sammelten sich um die Spieler. Jeder sah Türke erwartungsvoll an. Alle wünschten Slajonow eine Niederlage. Türke nahm die Karten auf, bis er achtzehn Punkte beisammen hatte. Dann hielt er inne.
„Ich hab' genug. Jetzt du“, murmelte er. Slajonow griff nach den Karten. Die erste war ein König, die zweite ein As. „Fünfzehn Punkte!“ flüsterten die Zuschauer aufgeregt.
„Kaufst du weiter?“ erkundigte sich der Türke besorgt. „Natürlich!“
Ein König!
„Neunzehn Punkte. Das reicht.“
Türke hatte verloren.
„Noch ein Spiel um das Frühstücksbrot von morgen!“ schlug Slajonow wieder vor.
„Laß das, Türke!“ griff der dicke Ustinowitsch, der Vernünftigste aus der dritten Abteilung, ein. „Spiel nicht weiter.“ Doch Türke war bereits von der Spielleidenschaft gepackt. „Geh zum Teufel! Ich spiele ja nicht um dein Brot,“ Türke verlor wiederum.
Die nächsten Spiele hatten ein fieberhaftes Tempo. Das Glück wechselte von einem zum ändern.
Türke hatte zuviel Temperament, um jetzt noch aufhören zu können, und so ging das Spiel weiter — nur unterbrochen von den Unterrichtsstunden und dem Abendessen.
Danach spielten sie und spielten. In der dritten Abteilung herrschte wilde Erregung. Immer wieder stürzten Boten in die Klasse und verkündeten den letzten Stand der Dinge. Es hatte bereits zum Schlafengehen geklingelt, aber das Spiel ging weiter. In den Schlafräumen bauten die Kameraden vorsorglich die Decken und Kissen der Spieler so zurecht, daß es aussah, als lägen sie darin.
Alle wünschten Slajonow eine Niederlage.
Am nächsten Morgen wurde bekannt, daß Türke Kopf und Kragen verspielt halte: In der einen Nacht hatte er seine Brotportionen für zwei Wochen an Slajonow verloren!
Kurz danach passierte Ustinowitsch dasselbe. Und nun brach eine zügellose Spielsucht aus. Wie eine ansteckende Krankheit verbreitete sich die Spielleidenschaft in der Schule, und zwar hauptsächlich in der dritten Abteilung. Zuweilen konnten sich kleine „Könige des Spiels“ einen Tag oder zwei Tage gegen Slajonow halten, aber zuletzt überwältigte er sie immer. Ob er bloß Glück im Spiel hatte, oder ob er mogelte? Jedenfalls gewann er dauernd. Es dauerte nicht lange, und er hatte die dritte Abteilung fast ausnahmslos in der Hand.
Jetzt bezahlten ihm Dreiviertel der Schüler Brotschulden. Slajonows Einfluß wuchs unaufhaltsam. Er wurde der mächtigste Mann der Schkid. Dauernd war er von einer Eskorte der Großen begleitet, und sein breites Gesicht strahlte vor Wohlbehagen. Für die Schkid war es eine denkwürdige Zeit. Täglich veranstaltete Slajonow Feste in der vierten Abteilung, bei denen er seine Leibgarde abfütterte.
Der Bausch seiner hemmungslosen Baffgier vergrößerte nur noch seine Macht. Die Schkider stöhnten vor Hunger, aber die von Freßgier besessenen Großen kümmerten sich nicht darum. Jeden Tag lieferte die halbe Schule ihr Brot an die kleine, fette Spinne ab, die dafür Geld, Wurst, Butter und Bonbons eintauschte. Dazu hielt sich Spinne ein Heer von Agenten.
Der Hunger produzierte in der Schkid einen neuen Stand — die Knechte.
Die ersten „Knechte“ waren Kusja und Korenow. Sie hungerten dauernd und waren für ein Stück Brot bereit, alles zu tun, was man ihnen befahl. Und Slajonow konnte befehlen.
Er tat nichts mehr allein. Wenn er Holz sägen sollte, mietete er sich einen Ersatzmann, der für ein Stück Brot seine Arbeit verrichtete. Bei anderen Gelegenheiten machte er es ebenso.
Bald führte die gesamte vierte Abteilung ein reaktionäres Schmarotzerdasein.
Ihre Arbeit wurde von den Kleinen, die Slajonow bezahlte, verrichtet. Wenn Slajonow abends in die vierte Abteilung kam, sprang Japs auf. „Kniet nieder!“ schrie er. „Es erscheint seine Majestät der Brotkönig!“
„Hurra! Hurra! Hurra!“ fielen die anderen ein.
Slajonow verbeugte sich mit einem Lächeln und gab Kusja, der ihn begleitete, ein Zeichen. Eilig holte Kusja die Lebensmittel, die er mitgebracht hatte, aus der Tasche und legte sie auf eine Klassenbank.
„Es lebe der Brotkönig!“ grölte Japs. „Gesegnet sei der Abendfraß! Rückt die Tische zusammen, um den Speisen und Getränken unseres Gebieters die Ehre zu erweisen, die ihnen gebührt!“ Auf den zusammengerückten Klassenbänken häuften sich Bonbons, Kuchen, Kondensmilch, Wurst, Schinken und Süßstoff zu Bergen. Ein ohrenbetäubender Lärm brach los. Der gemeinsame „Abendfraß“ begann.
Mit vollem Mund, dick belegte Butterbrote schwenkend, überschütteten die Großen Slajonow mit Lob. Japs klopfte ihm auf die fette Schulter.
„Du bist unser Gott!“ kreischte Japs. „Unser kleiner Gott! Unser goldenes, rosiges, rundliches Kalb!“ Er ließ sich auf ein Knie nieder, hielt Slajonow unter allgemeinem hysterischem Gelächter einen Wurstzipfel hin und flehte: „Gebieter! Segne unser Mahl!“ Slajonow zwinkerte mit den unsteten listigen Augen, grinste und bekreuzigte die Wurst flüchtig.
„Teufel!“ quietschte Zigeuner begeistert. „Singt ihm ein Ruhmeslied!“
„Eine Sänfte für den König! Tragt den König auf Händen!“ Die Kleinen, die auch dabei waren, nahmen Slajonow auf die Arme und schleppten ihn durch die Klasse; die Großen schwenkten Schrubber als Palmwedel über dem Kopf des Wucherers, gingen hinterdrein und brüllten aus voller Kehle:
Die Zeremonie schloß mit der feierlichen Krönung durch einen Kranz, den man in aller Eile aus Papierstreifen zusammengedreht hatte. Nachdem der letzte Kuchenkrümel verzehrt war, hielt Japs eine Dankesrede.
Bei einem der regelmäßigen Abendgelage war Slajonow besonders außer Rand und Band.
Sie aßen, sie schrien, sie sangen Lobeshymnen. An der Tür drängte sich ein Häuflein hungernder Schuldner. Slajonow war wie trunken von den Lobpreisungen. „Ich kann alle ernähren!“ schrie er. „Ich habe genug.“ Sein Blick fiel auf Kusja, der niedergeschlagen in der Ecke stand, und er hatte einen Einfall. „Kusja!“ brüllte er. „Komm mal her, Kusja!“ Kusja trat hinzu. „Knie nieder!“
Kusja schrak zusammen. Verwirrt stand er da. Etwas wie Stolz wehrte sich in ihm. Aber Slajonow ließ nicht locker. „Auf die Knie! Hörst du? Ich gebe dir auch ein Stück Kuchen.“ Und Kusja sank in die Knie — so ruckartig, als würde er durchgebrochen. Tief senkte er den Kopf, damit die Kameraden nicht seine Augen sahen. Slajonow verzog den Mund zu einem befriedigten Lächeln.
„Da, Kusja, friß! Ich geb's gerne!“ sagte er und schmiß dem knienden Jungen ein Stück Kuchen hin. Plötzlich kam ihm eine glänzende neue Idee.
„He, Leute, hört mal her!“ Er sprang auf die Bank. Als es still geworden war, fuhr er fort: „Kusja wird mein Sklave sein. Verstanden, Kusja? Du bist mein Sklave. Und ich bin dein Herr. Du wirst für mich arbeiten, und ich werde dich füttern. Steh auf, Sklave, und nimm eine Wurst!“ Kusja war totenblaß geworden. Er erhob sich folgsam, nahm das Almosen und ging in die Ecke. Einen Augenblick lang herrschte peinliche Stille in der Klasse. Japs ekelte das erniedrigende Schauspiel an. Das gleiche empfanden auch Zigeuner und Spatz. „Du bist doch ein Schwein, Slajonow!“ Mamachen gab seiner Empörung offenen Ausdruck.
Slajonow stutzte. Er spürte, daß er zu weit gegangen war. Aber seine Geistesgegenwart verließ ihn nicht. Er begann ein Lied zu grölen, um Mamachens Gebrumm zu übertönen.
Die von Slajonow eingeführte Sklaverei bürgerte sich ein, vor allem unter den Großen aus der vierten Abteilung, die sich auf Kosten des Wucherers ebenfalls Sklaven zulegten. Allen war das Abscheuliche dieses Vorgehens bewußt, doch jeder suchte die eigene Schuld vor seinem Gewissen zu verkleinern und sie auf die anderen abzuwälzen. Die Sklaverei wurde zur gesellschaftlichen Erscheinung. Morgens machten die Sklaven ihren Herren die Betten. Sie schrubbten für sie die Fußböden, sie holten Holz und führten sämtliche anderen Befehle aus. Slajonows Macht überstieg alle Begriffe.