Wie die Ereignisse allmählich bewiesen, hatte Vikniksor recht gehabt, den neuen Zögling als begabten Jungen vorzustellen. Nachdem Jankel mehr als eine Woche in der Schkid verbracht hatte, wurde beschlossen, seine Begabung für die gesellschaftliche Arbeit auf die Probe zu stellen.
Damals gab es nicht besonders viel derartige Arbeit in der Schkid, aber zu den wenigen gesellschaftlichen Pflichten gehörte eine höchst ehrenvolle und wichtige — der Küchendienst.
Der Diensthabende — ein Zögling — war vor allem verpflichtet, Brot und andere Lebensmittel aus der Vorratskammer zu holen. Dort bestimmte ein alter, grauhaariger Wirtschaftsleiter über Wohl und Wehe der ihm anvertrauten Kindermagen.
Der Diensthabende nahm die Tagesrationen in Empfang und brachte sie der majestätischen Köchin in die Küche. Sie teilte die kargen Zuteilungen an Grütze und Heringen mit virtuoser Geschicklichkeit so ein, daß nicht nur ein aus zwei Gängen bestehendes Mittagessen herauskam, sondern außerdem noch die Grütze für das Abendessen. Jankel wurde also zum Diensthabenden ernannt. Da ihm dieses Tätigkeitsfeld jedoch noch unbekannt war, gab man ihm zur Anleitung und Hilfe einen weiteren Zögling bei Kossar.
Als die ersten Strahlen der Wintersonne zaghaft über die Wände des Schlafraums glitten, erhob sich der dicke, melancholische Kossar mürrisch von der Pritsche und zog sich die Stiefel an.
„Jankel, steh auf, du hast Dienst“, krächzte er.
Das Aufstehen war alles andere als ein Vergnügen. Ringsum schnarchten — zusammengerollt, auf dem Rücken ausgestreckt oder die Nase ins Kissen gebohrt — acht junge Strubbelköpfe. Jankel hatte die größte Lust, sich die warme Decke über die Nase zu ziehen und noch ein halbes Stündchen in den Schnarchchor einzustimmen. Hinter der Wand klimperte jemand auf dem Klavier. Das war Kamel, der immer beim ersten Sonnenstrahl erwachte und nun seine Tonleitern übte. Sein Geklimper besagte, daß es acht Uhr war. Jankel gähnte verschlafen. „Nichts zu rauchen?“ fragte er Kossar. „Nee.“
Sie zogen sich flüchtig an und machten sich auf den Weg zur Vorratskammer, die auf dem Boden untergebracht war. Darunter wohnte der Wirtschaftsleiter in einer Einzimmerwohnung, die durch einen ziemlich langen Korridor vom Treppenhaus getrennt war. Die Korridortür wurde immer abgeschlossen, und man mußte lange klopfen, bis der Wirtschaftsleiter es hörte.
Jankel und Kossar blieben vor der Korridortür stehen. Kossar reckte sich faul und schlug mit der Faust an die Tür, um den Wirtschaftsleiter herbeizurufen. Plötzlich riß er die verschlafenen Augen auf. Die Tür hatte sich durch seinen Schlag geöffnet.
„So ein Dussel! Vergißt, die Tür abzuschließen!“ Kossar schüttelte den Kopf, winkte Jankel, ihm zu folgen, und ging in den dunklen Korridor.
Sie tasteten sich bis zur nächsten Tür, öffneten sie und traten in das sonnendurchflutete Vorzimmer.
Hier war es warm und gemütlich, daß die verschlafenen Vertrauensleute unwillkürlich den Schritt verhielten, um einige Augenblicke der Ruhe und des Alleinseins zu genießen, bevor sie zum Zimmer des Wirtschaftsleiters gingen.
In dieser Sekunde vollzog sich das unkomplizierte, aber denkwürdige Ereignis, bei dem Jankel zum erstenmal seine überragende Begabung offenbarte.
In den Kampf mit seiner überwältigenden Schlaftrunkenheit vertieft, stand Kossar da, sämtliche Gedanken auf den Entschluß konzentriert: Wir müssen zum Wirtschaftsleiter hineingehen. Als seine Willenskraft gerade über seine Faulheit siegen und er schon die Türklinke herunterdrücken wollte, hörte er plötzlich Jankels seltsam veränderte Stimme. „Willst du rauchen?“ zischte der Junge.
Ob Kossar rauchen wollte? Na, und ob! Die gesamte Energie, die er zum Türöffnen gesammelt hatte, brach sich in einer Kehrtwendung Bahn und in dem nachdrücklichen Ruf: „Ich will!“
„Dann rauch doch! Bitte, da ist Tabak.“
Kossar folgte Jankels Blicken. Seine Augen richteten sich auf den Tisch. Er erstarrte.
Dort lagen in schnurgeraden Reihen säuberliche braune Tabakpäckchen von je einem Viertelpfund. Auf der Verpackung erspähte das erfahrene Raucherauge die Aufschrift: „Sonderklasse B“. Vierzig Päckchen I zählten die Vertreter der angewandten Mathematik in Gedanken.
Sie sahen sich an und kamen wortlos zu dem gleichen Ergebnis: 40 — 2 = 38. — Die Differenz wird man kaum bemerken. Genauso wortlos gingen sie zum Tisch, steckten sich je ein Päckchen in die Tasche und schlichen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Die Tür knarrte in die Traumstille des Schlafraums, und zwei aufgeregte Strolche stürmten ins Zimmer. „Leute! Tabak!“
Acht Köpfe fuhren unter den Bettdecken hervor, acht Paar Augen blitzten lüstern, als sie in Jankels und Kossars erhobenen Händen die reizvollen Päckchen wahrnahmen. Zigeuner reagierte zuerst. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, nahm die verführerischen Päckchen aus nächster Nähe in Augenschein und forschte gierig: „Wo?“
Die Diensthabenden wiesen schweigend mit dem Kopf nach oben. Zigeuner stürmte los und verschwand hinter der Tür. Der Schlafraum hielt in qualvoller Erwartung den Atem an. „Hurra, Halunken! Ich hab' welchen!“ Zigeuner schoß herein und schwenkte siegestrunken zwei Päckchen.
Beispiele stecken an, und keine Macht der Welt hätte die übrigen zurückhalten können.
Ausnahmslos alle wollten ein Viertelchen Tabak besitzen. Unter Mißachtung jeder Vorsichtsmaßnahme startete der Schlafraum wie im Wettlauf zum Sturm auf das Zimmer — das Ziel seiner Wünsche. Fünf Minuten später triumphierten die Schkider. Jeder betastete, knetete und preßte das unselige Päckchen, das ihm das Schicksal so unerwartet in den Schoß geworfen hatte.
Der pechschwarze Stotterer Goga, der als passionierter Raucher noch mehr als die übrigen am Tabakmangel gelitten und auf der Straße jede Kippe aufgesammelt hatte, wußte sich vor Freude kaum zu lassen. Er saß in der Ecke, das braune Päckchen fest in der Hand, und wiederholte dauernd: „Wir haben T-tabak! Wir haben T-tabak!“ Jankel hockte auf der Pritsche und sang mit dummem Grinsen:
Vor lauter Freude sah niemand, daß ein überzähliges Päckchen auf dem Fensterbrett lag, bis Zigeuner es bemerkte.
„Halunken! Wessen Tabak liegt da auf dem Fensterbrett? Haben alle ein Päckchen?“
„Ja. Jeder hat ein ganzes Päckchen.“ „Es ist also überzählig?“
„Freilich.“
„Oho, prima! Sogar eines zuviel!“
„Dann teilen wir es. Und die vollen Päckchen verstecken wir.“ „Los!“
„Teile es. Alle sind einverstanden.“
Das überzählige Päckchen wurde in zehn Teile zerfleddert. „Den Tabak schleunigst verstecken!“ befahl Zigeuner dann drohend. „Und reinen Mund halten. Kein Wort zu den Externen. Verstanden, Halunken? Und wer ertappt wird, soll sich rauswinden, ohne die anderen zu verpfeifen.“
„Klar. Quatsch nicht. Das wissen wir…“
Als der Erzieher an diesem Morgen in den Schlafraum kam, war er höchst überrascht, daß er niemanden mehr zu wecken brauchte. Die gesamte Mannschaft war bereits auf den Beinen. Väterchen lächelte zufrieden.
„Fein, Kinder!“ sagte er lobend. „Nett von euch, daß ihr heute gemeinsam aufgestanden seid.“
„Oho, Onkel Serjosha, wir können aber auch noch früher aufstehen.“ Zigeuner lachte mit schadenfrohem Gesicht. „Tüchtig, Kinder, tüchtig!“
„Na, Onkel Serjosha, so tüchtig sind wir nun auch wieder nicht.“ Inzwischen waren Jankel und Kossar wieder zur Vorratskammer gegangen.
Der Wirtschaftsleiter hatte noch nichts gemerkt. Mit dem gewohnten freundlichen Lächeln wog er die Lebensmittel ab. Er erkundigte sich dabei nach Schulneuigkeiten, sprach über das Wetter, über den beginnenden Frost und gab jedem der beiden Strolche ein Butterbrot. Jankel schwieg dazu, Kossar murmelte einen mürrischen Dank, aber beide atmeten erleichtert auf, als sie die Vorratskammer verlassen hatten.