Eva und Berthold stopften den Kuchen in sich hi­nein und murmelten mit vollem Mund »besonders gut«, wie jeden Sonntag.

Um halb zwцlf Aufbruch der ganzen Familie zum Mittagessen bei Oma. »Wir halten das Familienleben hoch«, hatte die Mutter zur Schmidhuber gesagt. »Ich sage immer, es gibt nichts Wichtigeres fьr Kinder als ein gutes Familienleben. Und dazu gehцrt, dass wir je­den Sonntag bei den Eltern meines Mannes zu Mittag essen.« Und die Schmidhuber hatte genickt und gesagt, wenn alle Familien so intakt waren, gдbe es weniger Jugendkriminalitдt. Eva hдtte am liebsten laut ge-

schrien.

Alle waren ordentlich angezogen und gekдmmt. Fin­gernдgelkontrolle. Evas Fingernдgel waren immer sehr kurz geschnitten, bis zur Fingerkuppe musste sie sie herunterschneiden, um die zerbissenen und zerfransten Rдnder wieder glatt zu bekommen.

Berthold, mьrrisch, schlecht gelaunt, erwischte noch schnell eine Ohrfeige, sonntags, beim Aufbruch, weil er lieber FuЯball gespielt hдtte drьben in den Anlagen, mit seinen Freunden, und es nicht schaffte, wortlos zu verzichten, schweigend seinen Wunsch zu unter­drьcken.

»Aber Fritz, doch nicht am Sonntag!«, sagte die Mutter.

»Wenn er es aber verdient hat!«, antwortete der Vater.

Bei schцnem Wetter gingen sie zu FuЯ, nur wenn es regnete, nahmen sie das Auto. »Das tut gut nach einer Woche im Bьro«, sagte der Vater und dehnte seine Schultern, ging mit federnden Schritten, ein stattlicher Mann, durch die sonntдglich leeren StraЯen. Von der Anlage drьben hцrte man das Geschrei der Buben: »Toooor!« Berthold drehte den Kopf zur Seite. Auf seiner Backe sah man noch die rцtlichen Spuren der Ohrfeige.

Eva trottete hinter den anderen her. Sie ging nicht gern zur Oma. Noch nie war sie gern zur Oma gegan­gen.

Sie erinnerte sich noch genau, wie das damals war, als sie bei Oma gewesen war. Als Mama im Kranken­haus gewesen war. »Evachen hier« und »Evachen da« und der Geruch von Putzmitteln ьberall. »Rдum auf, Evachen. Ein braves Mдdchen isst seinen Teller leer. Ein braves Mдdchen rдumt seine Spielsachen weg. Ein braves Mдdchen gibt der Oma ein Kьsschen.« Eva hatte nur noch auf den Vater gewartet.

Sie war schon fьnf gewesen bei Bertholds Geburt, sie erinnerte sich an die Freude des Vaters, die laute, aufgeregte Stimme. »Stellt euch vor, ein Junge! Es ist tatsдchlich ein Junge.« Das Lachen des Vaters war an-

ders, ganz anders als das Lachen, das er fьr Eva hatte. Sie hatte zu ihm gehen wollen, sich in seine Arme wer­fen, hatte den ganzen Tag schon darauf gewartet, dass er kommen wьrde, der Vater, dass er sie auf seine Knie heben wьrde, hatte darauf gewartet, dass er sie kitzeln wьrde, bis sie kreischen mьsste vor Lachen, bis ihr Bauch hart wьrde und fast wehtдte, aber nur fast. Auf diese schmale Kippe zwischen Lust und Schmerz hatte sie gewartet.

Und dann war er da und er sah sie nicht. »Ein Jun­ge«, sagte er. »Stellt euch vor, es ist ein Junge.« Eva war noch einen Schritt auf ihn zugegangen, hatte die Arme nach ihm ausgestreckt. Er hatte sie nicht be­merkt. »Und was fьr einer. Acht Pfund wiegt er.«

Die Oma hatte die Hдnde zusammengeschlagen, na so was, endlich ein Junge, war an den Kьchenschrank gegangen, hatte die obere Tьr aufgemacht, die Glastьr, an die Eva damals noch nicht drankam, die Oma hatte sich gereckt und eine Flasche herausgeholt. Der Rock war ihr hochgerutscht und Eva hatte den Wulst gese­hen, diesen Strumpfwulst ьber Omas Knien. Sie rollte die Strьmpfe immer ьber den Knien zu einem Wulst, der dann mit einem Gummiband gehalten wurde. Ьber dem braunen Wollstrick waren Omas Beine sehr weiЯ, wie Hefeteig sah die Haut aus, wie der Teig, der in ei­ner Schьssel unter einem sauberen weiЯen Kьchen­handtuch blasig aufgegangen war.

Sie hatten am Kьchentisch gesessen, der Vater hatte das kleine Glдschen ein paar Mal leer getrunken, die Oma hatte ihm nachgeschenkt, der Vater hatte mit ro­tem Gesicht gelacht, ja, ein Junge, und die Oma hatte gesagt: »Das war auch damals, bei deiner Geburt, eine Freude, das kannst du dir gar nicht vorstellen«, und hatte dem Vater die Hдnde getдtschelt.

Und Eva hatte dabeigestanden und die Tischdecke angestarrt, blauweiЯe Karos, Eva hatte angefangen, sie zu zдhlen, die Karos, bis zehn konnte sie zдhlen da­mals. Auf einem weiЯen Karo war ein grьner Fleck ge­wesen, Spinat vom Mittagessen. »Spinat ist gesund«, hatte Oma gesagt. Eva mochte keinen Spinat.

»Berthold soll er heiЯen.«

Eva war ganz leise hinьbergegangen in das Schlaf­zimmer, hatte sich m Omas Bett gelegt, die riesige, weiЯe Zudecke ьber sich gezogen, weiЯ mit eingestick­tem Monogramm, EM, E, weil Oma Elfriede hieЯ, und M, weil sie, bevor sie den Opa heiratete, Mьller gehei­Яen hatte.

Eva setzte automatisch einen FuЯ vor den anderen. Sie ging nicht gern spazieren. Nach einer halben Stunde fing der Vater auch noch an zu drдngeln: »Los, Kinder, ein bisschen schneller! Wir wollen Oma doch nicht warten lassen.«

Eva war schon wieder ganz verschwitzt und wischte sich mit einem Tempotaschentuch ьber das heiЯe Ge­sicht. Endlich waren sie da, an den alten Wohnblocks.

Oma und Opa wohnten im Hinterhaus, im ersten Stock. Eva mochte diese dьstere Wohnung nicht, hatte sie noch nie gemocht. Alles war mit Mцbeln voll ge­stellt, ьberall hingen Fotos an den Wдnden.

»Das ist deine Tante Adelheid. Die ist nach Amerika ausgewandert. Sie hat ihren Mann in Deutschland ken­nen gelernt, er war hier stationiert, ein guter Mann. Schau, drei Kinder hat sie.«

Und Eva schaute das Foto an, eine krдftige Frau un­ter einem bunten Weihnachtsbaum, der Mann und die Kinder standen neben ihr.

»Jeden Monat schreibt sie einen Brief«, sagte die Oma und wischte sich mit dem Schьrzenzipfel ьber die Augen. »Jeden Monat schreibt sie.«

»Ja, ja, Mutter«, sagte der Vater und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ist schon gut, Mutter.«

»Ach Gott, die Gans«, rief die Oma und watschelte in die Kьche.

Gans bei der Hitze, dachte Eva. Sie stand am Vertiko und betrachtete die Fotos ihres Vaters, die da in schmalen Goldrдhmchen aufgereiht waren: Vater am ersten Schultae, ein dicklicher Junge mit einem dunk-

len Pullover, eine Schultьte an sich gepresst. Vater bei der Erstkommunion, schwarzer Anzug, weiЯes Hemd, Kerze, sehr ernsthaft und feierlich. Vater beim Schul­abgang, Vater bei der Bundeswehr, im Kreis seiner Ka­meraden. Er war auch immer dick gewesen.

»Evachen, komm in die Kьche, das Essen ist fertig.«

Das war Opa. Er legte seine Arme um sie und gab ihr einen feuchten Kuss. Eva strich ihm ьber das schьt­tere, weiЯe Haar.

»Opa, wie geht es dir denn?«

Er war alt, viel дlter als Oma.

»Es geht, Kind. Wenn man alt wird, ist alles anders. Da wird man bescheiden. Da muss man Gott danken, wenn man noch einigermaЯen gesund ist.«

Die Gans war groЯ und braun und das Fett troff nur so an ihr herab und bildete hell schwimmende Gold­augen auf der Sauce. Die Oma stand am Tisch, hielt ei­nen Teller in der Hand und legte ein Stьck Gans dar­auf, ein Bein, dann zwei Knцdel, goss mit einem kleinen Schцpflцffel goldдugige Sauce darьber, fettдu-gige Sauce, und fьllte die noch verbliebenen Lьcken auf dem Teller mit Rotkraut.

»Danke, Mutter«, sagte der Vater, als sie den Teller vor ihn hinstellte. Er bekam immer zuerst.

»Danke«, sagte Opa.

»Danke«, sagte die Mutter. Oma strahlte.

Berthold hatte schon die Gabel in der Hand und fing sofort an zu essen, als Oma ihm seinen Teller gab.

»Lass es dir schmecken, Evachen.«

Eva spьrte ein kleines, leichtes Wьrgen in ihrer Kehle und trank schnell einen Schluck Apfelsaft.

Die Oma schnitt sich das Fleisch in ganz kleine Stьckchen. »Meine Zдhne, wisst ihr!« Sie schmatzte beim Essen.

»Die Adelheid hat geschrieben, ihr Sohn ist mit der Schule fertig und hat ein sehr gutes Zeugnis bekom­men. Er wird studieren.«

»Die Eva wird auch immer besser in der Schule«, sagte der Vater. »Sie macht uns viel Freude.«


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