Und auch jetzt hatte sie Hunger, immer hatte sie nach der Schule Hunger. Mechanisch zдhlte sie die Geldstьcke in ihrem Portemonnaie. Vier Mark fьnf-undachtzig hatte sie noch. Der Heringssalat kostete

zwei Mark hundert Gramm. Im Laden war es kьhl nach der sengenden Hitze drauЯen. Bei dem Geruch nach Essen wurde ihr fast schwindelig vor Hunger.

»Zweihundert Gramm Heringssalat mit Mayonnaise, bitte«, sagte sie leise zu der Verkдuferin, die gelang­weilt hinter der Theke stand und sich trдge am Ohr kratzte. Es schien einen Moment zu dauern, bis sie ka­pierte, was Eva wollte. Doch dann nahm sie den Finger von ihrem Ohr und griff nach einem Plastikbecher. Sie lцffelte die Heringsstьckchen und die Gurkenscheiben hinein, klatschte noch einen Lцffel Mayonnaise darauf und stellte den Becher auf die Waage. »Vier Mark«, sagte sie gleichgьltig.

Hastig legte Eva das Geld auf den Tisch, nahm den Becher und verlieЯ gruЯlos den Laden. Die Verkдufe­rin fuhr fort, sich am Ohr zu kratzen.

DrauЯen war es wieder heiЯ, die Sonne knallte vom Himmel. Wie kann es nur im Juni so warm sein, dachte Eva. Der Becher in ihrer Hand war kalt. Sie beschleu­nigte ihre Schritte, sie rannte fast, als sie den Park be­trat. Ьberall auf den Bдnken saЯen Leute in der Sonne, Mдnner hatten sich die Hemden ausgezogen, Frauen die Rцcke bis weit ьber die Knie hochgeschoben, da­mit auch ihre Beine braun wьrden. Eva ging langsam an den Bдnken vorbei. Schauten ihr die Leute nach? Redeten sie ьber sie? Lachten sie darьber, dass ein jun­ges Mдdchen so fett sein konnte?

Sie war an den Bьschen angekommen, die die Bank-

reihe von dem Spielplatz trennten. Schnell drьckte sie sich zwischen zwei WeiЯdornhecken hindurch. Die Zweige schlugen hinter ihr wieder zusammen.

Hier war sie ungestцrt, hier konnte sie keiner sehen. Sie lieЯ die Schultasche von der Schulter gleiten und kauerte sich auf den Boden. Das Gras kitzelte ihre nackten Beine. Sie hob den Deckel von dem Becher und legte ihn neben sich auf den Boden. Einen Mo­ment lang starrte sie den Becher andдchtig an, die graurosa Heringsstьckchen in der fetten, weiЯen Mayonnaise. An einem Fischstьck sah man noch die blausilberne Haut. Sie nahm dieses Stьck vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte es dann in den Mund. Kьhl war es und sдuerlich scharf. Sie schob es langsam mit der Zunge hin und her, bis sie auch deutlich den dдmpfenden, fetten Geschmack der Mayonnaise spьrte. Dann fing sie an zu kauen und zu schlucken, griff wieder mit den Fingern in den Becher und stopfte die Heringe in den Mund. Den letzten Rest der Sauce schabte sie mit dem Zeigefinger heraus. Seufzend erhob sie sich, als der Becher leer war, und warf ihn unter einen Busch. Dann nahm sie ihre Schul­tasche wieder ьber ihre Schulter und glдttete mit den Hдnden ihren Rock. Sie fьhlte sich traurig und mьde.

2

Eva klingelte unten am Hauseingang, zweimal kurz. Das tat sie immer. Ihre Mutter drehte dann die Platte des Elektroherdes an, auf dem das Mittagessen zum Aufwдrmen stand. Wenn Eva nach Hause kam, hatten ihre Mutter und ihr Bruder bereits gegessen. Berthold war erst zehn und ging noch in die Grundschule um die Ecke.

Diesmal war das Essen noch nicht fertig. Es gab Pfannkuchen mit Apfelmus und Pfannkuchen machte ihre Mutter immer frisch. »Schцn knusprig mьssen sie sein. Aufgewдrmt sind sie wie Waschlappen.«

»Wo ist Berthold?«, fragte Eva, als sie sich an den Tisch setzte. Irgendetwas musste man ja sagen.

»Schon lang im Schwimmbad. Er hat hitzefrei.«

»Das mьsste uns auch mal passieren«, sagte Eva. »Aber bei uns ist es ja angeblich kьhl genug in den Rдumen.«

Die Mutter hatte die Pfanne auf die Herdplatte ge­stellt. Es zischte laut, als sie einen Schцpflцffel Teig in das heiЯe, brutzelnde Fett goss. »Was hast du heute vor?«, fragte sie und wendete den Pfannkuchen. Eva lцffelte sich Apfelmus in eine Glasschьssel und begann zu essen. Von dem Geruch des heiЯen Fettes wurde

ihr ьbel. »Ich mag keine Pfannkuchen, Mama«, sagte sie.

Die Mutter hielt einen Moment inne, stand da, den Bratenwender mit dem darьber hдngenden Pfannku­chen in der Hand, und sah ihre Tochter erstaunt an. »Wieso? Bist du krank?«

»Nein. Ich mag heute nur keine Pfannkuchen.«

»Aber sonst isst du Pfannkuchen doch so gern.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Pfannkuchen nicht gern esse. Ich habe gesagt, ich mag heute keinen.«

»Das versteh ich nicht. Wenn du sie doch sonst im­mer gern gegessen hast ...!«

»Heute nicht.«

Die Mutter wurde bцse. »Ich stell mich doch nicht bei dieser Hitze hin und koche und dann willst du nichts essen.« Klatsch! Der Pfannkuchen lag auf Evas Teller. »Dabei habe ich extra auf dich gewartet.« Die Mutter lieЯ wieder Teig in die Pfanne laufen. »Eigent­lich wollte ich schon um zwei bei Tante Renate sein.«

»Warum bist du nicht gegangen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

Die Mutter wendete den nдchsten Pfannkuchen. »Das sagst du so. Und wenn ich nicht aufpasse, kriegst du nichts Gescheites in den Magen.«

Mechanisch bedeckte Eva den Pfannkuchen mit Ap­felmus. Da war auch schon der Zweite. »Aber jetzt langt es, Mama«, bat Eva.

Die Mutter hatte die Pfanne vom Herd genommen und zog sich eine frische Bluse an. »Ich habe im Kauf­hof einen schцnen karierten Stoff gefunden, ganz billig, sechs Mark achtzig der Meter. Renate hat mir verspro­chen, dass sie mir ein Sommerkleid macht.«

»Du kannst doch selbst schon so gut nдhen«, sagte Eva. »Wozu musst du immer noch zur Schmidhuber?«

»Sag nicht immer >die Schmidhuber<. Sag >Tante Re­naten«

»Sie ist nicht meine Tante.«

»Aber sie ist meine Freundin. Und sie mag dich. Sie hat schon viele schцne Sachen fьr dich gemacht.«

Das stimmte. Sie nдhte immer wieder Kleider und Rцcke fьr Eva, und sie konnte ja nichts dafьr, dass Eva in diesen Kleidern unmцglich aussah. Eva sah in allen Kleidern unmцglich aus.

»Was machst du heute Nachmittag?«, fragte die Mutter.

»Ich weiЯ noch nicht. Hausaufgaben.«

»Du kannst doch nicht immer nur lernen, Kind. Du musst doch auch mal deinen SpaЯ haben. In deinem Alter war ich schon lдngst mit Jungen verabredet.«

»Mama, bitte, verschon mich.«

»Ich meine es doch nur gut mit dir. Fьnfzehn Jahre alt und sitzt zu Hause rum wie ein TrauerkloЯ.«

Eva stцhnte laut.

»Gut, gut. Ich weiЯ ja, dass du dir von mir nichts sa­gen lдsst. Mцchtest du vielleicht einmal ins Kino ge­hen? Soll ich dir Geld geben?« Die Mutter цffnete das

Portemonnaie und legte zwei Fьnfmarkstьcke auf den Tisch. »Das brauchst du mir nicht zurьckzugeben.«

»Danke, Mama.«

»Ich gehe jetzt. Vor sechs komme ich nicht zurьck.«

Eva nickte, aber die Mutter sah es schon nicht mehr, die Wohnungstьr war hinter ihr zugefallen.

Eva atmete auf. Die Mutter und ihre Schmidhuber! Eva konnte die Schmidhuber nicht ausstehen. >Tante Renate<! Eva vermied die direkte Anrede. Sie wunderte sich immer wieder, wie leicht Berthold das >Tante Re-nate< sagte und sich ьber den Kopf streicheln lieЯ. »Sie mag Kinder so gern. Es ist ihr grцЯter Kummer, dass sie selbst keine bekommen kann«, hatte die Mutter ge­sagt. Von dem Kummer merkt man aber nicht viel, hatte Eva gedacht.

»Na, Eva, was macht die Schule? Hast du schon ei­nen Freund?« Hihi-Gekicher in dem runden Gesicht, volle, rot gemalte Lippen ьber weiЯen Zдhnen und runde Arme, die sich um Eva legen wollten. Und ein tiefer Ausschnitt, der den Schatten zwischen den hoch­geschnьrten Brьsten sehen lieЯ. »Man kann ruhig zei­gen, was man hat, nicht wahr, Marianne?« Und Evas Mutter hatte beifдllig genickt. Sie nickte immer beifдl­lig, wenn die Schmidhuber etwas sagte. Eva fand, dass die Hдlfte der Menschheit mit einem Busen herumlief und dass es keinen Grund gab, sich darauf was einzu­bilden und ihn besonders zur Schau zu stellen.

Eva ging in ihr Zimmer. Sie legte eine Kassette von Leonard Cohen ein und drehte den Lautsprecher auf volle Stдrke. Das konnte sie nur machen, wenn ihre Mutter nicht da war. Sie legte sich auf ihr Bett. Die tie­fe, heisere Stimme erfьllte mit ihren trдgen Liedern das Zimmer und vibrierte auf Evas Haut.


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