Die Arbeitswoche vergeht schnell und ich kann die ersten größeren und kleineren Erfolge verbuchen. In der letzten Nacht im Haus meiner Mutter kann ich vor Aufregung lange nicht einschlafen. So dankbar ich auch bin, dass ich hier Unterschlupf finden konnte, freue ich mich doch sehr auf meine Unabhängigkeit. Endlich werde ich mit Napirai eine eigene Wohnung haben, in der ich schalten und walten kann, wie ich will. Während ich meinen nächtlichen Gedanken nachhänge, kommt mir in den Sinn, dass ich schon einmal in einer ähnlichen Situation war. Als ich in Barsaloi mit Lketinga die letzte Nacht in Mamas beengter Hütte verbrachte, in der wir ein Jahr zusammen gelebt hatten, konnte ich vor Freude auf den Umzug in unsere eigene, neue, größere Manyatta ebenfalls kaum ein Auge zutun. Ich erinnere mich, mit welchem Stolz ich unsere neue Behausung mit den wenigen Sachen, die ich damals besaß, eingerichtet habe. Eine seltsame Begebenheit, die sich dabei ereignet hat, fällt mir auf einmal ein. Während ich meine Kleider verstaute, entdeckte ich an der getrockneten Kuhmistwand eine kleine graue Schlange. Erschrocken und mit einer Art Reflex erschlug ich das arme Tier mit einem Stein von der Feuerstelle. Als meine Schwiegermama am nächsten Tag davon erfuhr, schien sie nicht sehr begeistert zu sein. Lketinga erklärte mir dann, dass, wenn eine junge Frau beim Bezug ihrer Manyatta eine Babyschlange vorfinde, dies bedeuten würde, dass sie schwanger ist. Deshalb darf man diese kleinen Schlangen nicht töten. Mir tat das Missgeschick zwar sehr Leid, doch war ich mir sicher, dass meine Schlange keine Vorbotin einer Schwangerschaft war. Schließlich hätte ich ja davon etwas merken müssen. Ein paar Wochen später allerdings stellte sich heraus, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war. »Eine Schlange wird uns morgen sicher nicht erwarten«, denke ich noch, bevor ich endlich einschlafe.
Am nächsten Tag ziehen wir mit unseren wenigen Habseligkeiten in die neue Wohnung ein. Es sind kaum mehr Gegenstände als bei einem nomadischen Umzug meiner Schwiegermama. Nur verstaute sie ihre Sachen nicht in einem Auto, sondern ihr Hab und Gut wurde von einem Esel transportiert. Zuerst wurden die größeren, brauchbaren Äste der Manyatta abgebaut und links und rechts am Esel so befestigt, dass dazwischen die zusammengerollten Kuhfelle der Schlafstätte und die selbst gefertigten Sisalmatten der Dachabdeckung Platz fanden. Rund herum hängte sie ihre wenigen Töpfe, Tassen und Kalebassen. Schon war alles bereit für den langen Fußmarsch durch die Steppe.
Bei uns dauert der Umzug nur knapp eine Stunde. Meine Mutter hat mir eine schöne große Grünpflanze geschenkt, die den Raum lebendiger gestaltet. Auch hat sie uns zum Einstand einen Korb mit Lebensmitteln mitgegeben. Napirai inspiziert alles Neue und weiß nicht so recht, ob sie sich freuen soll. Nach dem Einräumen gehe ich mit ihr auf den Spielplatz, wo sich neben dem Sandkasten auch eine Rutschbahn befindet. Spielende Kinder jeden Alters beäugen uns etwas unsicher und flüstern oder kichern miteinander. Der Kontakt zu andersfarbigen Menschen scheint hier noch ungewohnt zu sein, denn Napirai wird ausgiebig bestaunt. Zwei Kinder rennen sogar weg und kurz darauf sehe ich sie mit ihren Müttern auf den Baikonen stehen. Vom Rest der Kinderschar versuche ich, wenigstens die Namen zu erfahren. Später, als Madeleine zu uns stößt, wird es etwas lebendiger unter den Kindern und sie muss erklären, wer wir sind.
Am Abend koche ich in der neuen Wohnung ein Nudelgericht. Madeleine wird mit ihrem Sohn zu uns kommen und wir wollen ein bisschen Einweihung feiern. Zum ersten Mal koche ich wieder in einer europäischen Küche, denn meine Mutter wollte niemanden in ihr Revier lassen. Ich genieße es, den Schalter des Kochherdes zu drehen, um die gewünschte Platte zu erhitzen, und den Wasserhahn zu öffnen, um den Topf mit Wasser zu füllen. Alles funktioniert unglaublich einfach und schnell. Um diese Aufgaben in unserer Manyatta zu erledigen, brauchte ich zwei bis drei Stunden. Zuerst musste ich zum Fluss hinuntergehen, dort das Wasser mit einer Dose in einen Kanister füllen und dann nach Hause schleppen. Anschließend suchte ich in der Steppe Holz, um damit mühsam ein Feuer zu entfachen. Natürlich gab es kein Zeitungspapier, stattdessen fand man mit etwas Glück Glutreste unter den Feuersteinen, die durch Pusten wieder zum Leben erweckt werden mussten. Bis sich die ersehnte Flamme entfachte, verbreitete sich beißender Rauch in der Hütte, der einem die Tränen in die Augen trieb und die Luft zum Atmen nahm. Und nun stehe ich hier in meiner Schweizer Wohnung, vollführe zwei Handgriffe und der Topf steht auf dem Herd! Immer wieder erlebe ich diese einfachen Dinge als bewusste Glücksmomente und bin dankbar, auch die andere Seite erlebt zu haben. Madeleine bringt eine Flasche Rotwein mit und nun können wir richtig feiern. Wir staunen, wie sehr das erste Treffen der allein Erziehenden bereits unser Leben verändert hat. Morgen sehen wir uns alle wieder. Ich bin gespannt, wie unser zweites Treffen verläuft und ob auch andere ähnlich gute Erfahrungen miteinander gemacht haben.
Die Organisatorinnen freuen sich über diese positiven Erfahrungen und meinen: »Genau das wollen wir erreichen. Jede von uns hat ein Beziehungsnetz und kann vielleicht einer anderen helfen. Exakt so soll es funktionieren!«
Mit einer Frau, die neu zu der Gruppe gestoßen ist, komme ich ins Gespräch und kann mich nur wundern. Sie zieht ihre drei Kinder allein auf und lebt auf 1.200 Metern Höhe in einem kleinen Dorf mit etwa 50 Einwohnern in einem uralten Haus. Alles muss sie selbst machen, Holz hacken, für warmes Wasser und die Heizung das Feuer im Holzofen schüren und das Haus reparieren. Zum Einkaufen muss sie einen Fußmarsch von zwei Stunden zurücklegen und alles im Rucksack den Berg hinaufschleppen. Im Winter schaufelt sie Berge von Schnee. Seit ihrer Scheidung vor einigen Jahren kommt sie kaum mehr unter Leute. Dass hier in der Schweiz eine junge Frau freiwillig so abgeschieden und altherkömmlich lebt, beeindruckt mich sehr. Ich nehme mir vor, sie am nächsten freien Wochenende zu besuchen, denn ich möchte mich selber überzeugen, wie sie das alles schafft.
Später unterhalte ich mich noch mit einer hübschen Frau, die zwei Töchter hat. Auch sie ist vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen und lebt zur Zeit wieder bei ihren Eltern, nachdem ihre Ehe gescheitert ist. Da sich ihre beiden Mädchen mit Napirai gut verstehen, vereinbaren wir, ein Wochenende gemeinsam zu verbringen. Schnell geht dieser Sonntag zu Ende und jede von uns geht wieder ihren eigenen Weg. Diesmal habe ich in der Gruppe erfahren, dass ich Anspruch auf eine Kinderzulage vom Arbeitgeber habe, und deshalb beschließe ich, meinen Chef, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet, über die Existenz meines Kindes aufzuklären.
Am Ende des zweiten Außendienstmonats habe ich eine zündende Idee. Der Umsatz steigt bisher zu langsam, was daran liegt, dass in den großen Firmen selten sofort bestellt wird. Da ich aber immer wieder die Erfahrung mache, dass fast jede Person, mit der ich in Kontakt komme, für sich persönlich etwas bestellt, kommt mir die Idee, Direktverkäufe an das Personal in Banken, Versicherungen und anderen großen Unternehmen zu organisieren. Mein Chef meint, ich solle es probieren, er werde mich bei einem eventuellen Verkauf unterstützen.
Der Einfall erweist sich als Erfolg. Jetzt bekomme ich Termine, um im Vorfeld die Kollektionen zu zeigen und einen gemeinsamen Verkaufstag zu bestimmen. Bald schon findet der erste Verkauf in einer Bank statt und es läuft hervorragend. Die Männer erwerben gleich mehrere Markenkrawatten und meistens auch noch Foulards und Schultertücher für ihre Ehefrauen. Allerdings finden die Verkäufe normalerweise am Ende der Arbeitszeit statt und so muss auch ich abends länger bleiben. Dafür ist der Umgang mit den Interessenten sehr entspannt und angenehm, da sie sich schon in Feierabendstimmung befinden. Auf Grund der beträchtlich gestiegenen Umsätze hat sich am Ende des Monats mein Gehalt ansehnlich verbessert.