Eine Woche nach unserem Gespräch beginne ich mit der neuen Arbeit. Es erweist sich als nahezu unmöglich, Termine zu bekommen. Also klappere ich mit einem geleasten Auto Handwerksbetriebe, Büros, Restaurants etc. ab und versuche, die Artikel mit der entsprechenden Firmenwerbung zu verkaufen. Da unsere Preise eher im unteren Bereich liegen, läuft es recht gut und viele bestellen gleich an Ort und Stelle. Nach zwei bis drei Monaten hat es sich herumgesprochen, dass ich gute und brauchbare Sachen anbiete. Deshalb werde ich weiterempfohlen und bald rufen die ersten Kunden von sich aus an. In dieser Branche ist es unkomplizierter, Kontakt zu den Leuten zu finden. Es kommt vor, dass ich bei einer Firma hineinschneie, in der die Angestellten gerade Pause haben. Dann werde ich fröhlich begrüßt und zum Kaffee eingeladen, während sie sich die Produkte anschauen. Der Verkaufsstil unterscheidet sich sehr von dem in meinem vorherigen Job, doch ich fühle mich wohl und lerne viele Menschen kennen.
Mein Bekanntenkreis hat sich mittlerweile beträchtlich erweitert, vor allem kenne ich eine Reihe mir sympathischer Frauen, und es fällt mir nicht schwer, Begleitung für eine abendliche Unternehmung zu finden. Am liebsten gehe ich tanzen. In den Lokalen beobachte ich die Menschen, wie sie dicht gedrängt um die Bars stehen oder sitzen und sich bei der lauten Musik kaum unterhalten können. Mir scheint, alle warten auf etwas. Zwischen mir und der Menschenmenge ist eine unsichtbare Wand. Ich habe das Gefühl, ich sei da, aber nicht dabei. Ich fühle mich nicht wie mittendrin, sondern eher wie außen vor. Ich kann mir dieses Empfinden selbst kaum erklären, da mir viele Leute vorgestellt werden und sich hin und wieder sogar ein Flirt entwickelt. Aber es erscheint mir alles unwirklich und oberflächlich. Andererseits staune ich und bin zeitweise fasziniert, wie sich die Szene und die Musik verändert haben.
Wenn ich dagegen an die Busch-Disco denke, die ich ein paar Mal in Barsaloi veranstaltet habe, muss ich beim Vergleich fast lachen. Da genügte der hintere Teil unseres Ladens, aus dem wir die Maissäcke entfernten. Ein Transistorradio, das an die Autobatterie des alten Landrovers angeschlossen wurde, war die einzige Musikquelle. Es gab Cola, Bier und gegrilltes Ziegenfleisch. Die Leute, ob jung oder alt, strömten in diese improvisierte Disco. Die meisten waren zum ersten Mal bei solch einer Veranstaltung und staunten wie große Kinder. Sogar die Alten hockten in ihre Wolldecken gehüllt am Boden und lachten. Nur die Frauen blieben draußen, was aber die Männer nicht vom ausgelassenen Tanzen abhielt. Alle waren glücklich und es gab ein Gefühl von »Miteinander«. Damals empfand ich diese Mauer zwischen mir und den anderen nicht. Es war ein tiefes Erleben, hier erscheint es mir jedoch wie ein weiteres Konsumieren. Trotzdem gehe ich aus, lasse mich von der neuen Musik berauschen und tanze manchmal stundenlang.
Napirai wächst heran und ist ein sehr aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Wir haben eine tiefe Beziehung zueinander, obwohl ich sie schon seit langem nicht mehr stille. Aber wir teilen uns immer noch das Schlafzimmer und das große Bett.
An einem Wochenende fahre ich mit ihr nach Biel, um mein ehemaliges Brautkleidergeschäft, das ich vor meiner Auswanderung nach Afrika einer Freundin verkauft hatte, aufzusuchen. Während der Fahrt überlege ich hin und her, ob ich auch Marco, meinen damaligen Lebenspartner, den ich wegen Lketinga verlassen hatte, anrufen soll. Weil ich mich bis Biel nicht entscheiden kann, parke ich zuerst in der Bieler Altstadt, wo sich meine ehemalige Boutique befindet. Meine Nachfolgerin Mimi weiß nichts von meiner Rückkehr, da wir uns schon vor längerer Zeit aus den Augen verloren haben. Ich steige die Treppen zum Laden hinunter und bemerke, dass sich einiges verändert hat. Im Geschäft stehen zwei Kundinnen, mit denen sich Mimi unterhält. Als sie zu uns aufschaut, entweicht ihr ein ungläubiges: »Non, c'est pas vrai! Corinne, bist du es wirklich? Ich glaube es nicht! Wie kommst du denn hierher?« Irritiert und fassungslos starrt sie mich an, während ich sie mit einem Kuss begrüße.
»Ach, das ist eine lange Geschichte, aber lassen wir das. Zuerst musst du mir sagen, wie du mit dem Geschäft klar kommst«, ermuntere ich sie. Natürlich wird nun Napirai ausführlich bestaunt. Als die Kundinnen den Laden verlassen haben, erzählen wir uns unsere Lebensgeschichten. Nach Übernahme der Boutique hat sie ihren jetzigen Lebensgefährten kennen gelernt, was mich sehr freut, denn davor war sie nach ihrer Scheidung jahrelang allein gewesen. Dann folgt meine Geschichte, die auch in Kurzfassung etwas länger dauert. Am Ende ist sie traurig, dass meine große Liebe so tragisch geendet hat. Spontan fragt sie, ob ich nicht Lust hätte, sie und ihren Freund mit meiner Tochter in St. Raphael in Südfrankreich zu besuchen. Sie habe sich dort für einige Wochen in einer schönen Villa eingemietet, da ihr LebenspartnereineSaisonarbeitfür Schiffsmotorenrevisionen angenommen habe. Sie fahre in zwei Wochen hinunter und wir seien jederzeit herzlich willkommen. »Die Villa ist wunderschön gelegen, hat einen großen Pool und genügend Platz für uns alle. Dann könntest du mir dein Leben in Kenia noch ausführlicher erzählen.« Ich sage sofort zu, denn Ferien habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht, obwohl jeder glaubt, wenn ich meine vier Jahre in Kenia erwähne, das sei ein Urlaub gewesen.
Nachdem sie mir die Adresse aufgeschrieben hat, frage ich nach Marco. Leider hat sie fast keinen Kontakt mehr zu unserem alten Freundeskreis, doch sie weiß, dass Marco umgezogen ist. Also rufe ich ihn kurzerhand an. Seine Stimme klingt weder überrascht noch verärgert und so unterhalten wir uns eine Weile am Telefon, bevor wir uns in einem Restaurant verabreden. Er hat sich kaum verändert. Wir erzählen uns knapp das Wichtigste aus den vergangenen Jahren und so erfahre ich, dass auch er eine gescheiterte Beziehung hinter sich hat und nun die Nase voll hat von Zweisamkeiten, was er offensichtlich ohne Groll mit einem strahlenden Lächeln kundtut. Bald haben wir uns nichts mehr zu erzählen und verabschieden uns, weil es obendrein für Napirai recht langweilig ist.
Auf der Fahrt nach Hause male ich mir in Gedanken die Ferien in Südfrankreich aus und freue mich darauf, zumal in St. Raphael eine Großtante mütterlicherseits lebt, die aus Indochina, dem heutigen Vietnam, kommt und die ich bei dieser Gelegenheit endlich kennen lernen könnte.
Drei Wochen später begeben wir uns mit dem Auto auf die lange Reise. Während der Fahrt singen wir, ich erzähle Geschichten oder wir hören uns Märchen-Kassetten an. Einige hundert Kilometer läuft alles bestens, doch allmählich wird Napirai quengelig, denn sie will nicht mehr im Auto sitzen. Alle Ablenkungsversuche helfen nichts und ich muss von der Autobahn abfahren und uns ein Hotel suchen. Mitten im Juli in Italien, und noch dazu in Meeresnähe, erweist sich dies als ein fast aussichtsloses Unterfangen. Alles ist belegt und darüber hinaus werden wir misstrauisch gemustert. Als ich mich schon auf eine Übernachtung im Auto vorbereiten will, haben wir beim letzten Versuch endlich Glück. Es ist eine alte Pension an einer Durchgangsstraße. Bevor wir das einfache und laute Zimmer beziehen, möchte ich mir mit Napirai noch ein wenig die Beine vertreten. Wir schlendern durch den kleinen malerischen Ort, in dem die Alten vor ihren Häusern auf der Straße sitzen. Immer wieder höre ich: »Che bella bambina, che bella!« Einige sind so entzückt von meiner Tochter, dass sie sie streicheln und berühren wollen. Napirai gefällt das überhaupt nicht und sie quittiert die Zuwendungen mit einem düsteren Blick. Wir ziehen uns in die Pension zurück und essen unsere letzten Brote, bevor wir erschöpft einschlafen.
Am nächsten Tag legen wir die letzten hundert Kilometer bis St. Raphael zurück und finden dank meiner im Außendienst erworbenen Orientierungsfähigkeiten die Villa auf Anhieb. Mimi empfängt uns freudig. Das Haus ist riesig und hat einen wunderschönen Pool. Am Abend stellt sie mir ihren Lebenspartner vor. Ich bin angenehm überrascht und erfreut. Er ist ein aufgeschlossener, jugendlicher und fröhlicher Mann, der Mimi jeden Wunsch von den Augen abzulesen scheint. Wir verbringen einen gemütlichen Abend. Bereits am zweiten Tag aber passiert fast eine Tragödie. Während ich für den Broteinkauf unterwegs bin, spielt sich zu Hause eine erschreckende Szene ab. Napirai schleicht, ohne einen Ton zu sagen, die Treppe zum Pool hinunter, und als Mimi rein zufällig auf die Terrasse kommt, sieht sie nur noch Napirais Haarbüschel aus dem Wasser herausschauen. Sie rennt zum Pool und zieht das Kind im letzten Moment heraus. Als ich nach 20 Minuten zurückkomme, schreit sie immer noch wie am Spieß. Panisch renne ich die Treppen hoch und sehe ihren roten Kopf. Während Mimi aufgeregt erzählt, was passiert ist, bekomme ich weiche Knie. Tränen laufen mir über das Gesicht, als mir bewusst wird, wie knapp mein Mädchen mit dem Leben davon gekommen ist. Stundenlang halte ich sie und lasse sie in den nächsten Tagen keine Minute mehr aus den Augen. Ich gehe mit ihr ans Meer und sie genießt das Buddeln im Sand. Bei einem Spaziergang durch das Dorf erlebt Napirai zum ersten Mal eine Kirmes mit Karussells, die es ihr schnell angetan haben. Ansonsten verläuft der Rest des Urlaubs ruhig, wenngleich für mich fast etwas zu langweilig. Ich bin es nicht mehr gewohnt, untätig zu sein und so viel Zeit zu haben.