Anfang 1995 trifft ein erfreulicher Brief von James ein. Er schreibt, dass Lketinga eine junge Frau geheiratet hat, die auch gleich schwanger wurde. Über diese Neuigkeit bin ich überglücklich und sehr erleichtert, dass er wieder Vater werden wird. Seine Frau sei ein Mädchen, das nahe bei unserer Manyatta gewohnt habe. Er werde mir ein Bild schicken, sobald er die Möglichkeit hat, sich einen Fotoapparat zu borgen. Ich bin sehr gespannt, wer dieses Mädchen ist, denn wenn sie in unserer Nähe gelebt hat, werde ich sie sicher erkennen. Ich freue mich so sehr für Lketinga, dass ich umgehend einen Antwortbrief schreibe und auch Geld überweise, damit er sich eine Kuh für die Hochzeit kaufen kann. Wie das Kind der beiden wohl aussehen wird? Ob vielleicht eine Ähnlichkeit mit Napirai zu erkennen ist? Im Moment muss ich meine Neugier zügeln und mich in Geduld üben. Auch wenn es James gelingt, einen Fotoapparat zu organisieren, wird das Entwickeln weitere zwei Monate dauern.

Meine Arbeit macht immer noch viel Spaß, unter anderem auch deshalb, weil mein Umsatz nach wie vor erfreulich steigt. Allerdings bekommen wir im Verlauf des Frühlings einen neuen Mitarbeiter, der zur Unterstützung der Geschäftsleitung eingesetzt werden soll. Schon bei der ersten Begegnung merke ich, dass er ein völlig anderer Typ als mein jetziger Chef ist und ich kann mir nicht vorstellen, wie die beiden zusammenarbeiten sollen. Aber mir kann es egal sein, denn ich arbeite sozusagen selbstständig und bin selten im Betrieb. Ich habe andere Probleme, denn Napirai wird nach den Sommerferien in den Kindergarten gehen. Das bedeutet, dass ich einen neuen Betreuungsplatz suchen muss, weil ihre jetzige Tagesmutter nicht in unserer Gemeinde wohnt. Wieder haben wir großes Glück, denn meine Tochter kann bei einer Familie unterkommen, die sie bereits kennt. Die neuen Pflegeeltern haben vier eigene Kinder, ein Mädchen und drei Jungen. Auch hier dauert es nicht allzu lange, bis Napirai sich zu Hause fühlt, obwohl es am Anfang für sie eine große Umstellung ist, die Aufmerksamkeit mit so vielen anderen Kindern teilen zu müssen. Im selben Jahr ziehen auch meine Mutter und Hanspeter in unser Dorf.

Endlich kommt der große Tag, an dem Napirai zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Stolz trägt sie ihr Täschchen und den Sicherheitsleuchtstreifen quer über der Brust. Im Kindergarten begrüßt uns eine ältere Dame, die sich als die Kindergärtnerin vorstellt. Etliche Eltern sind schon da. Als einzige Einelternfamilie werden wir eher von der Seite her beobachtet als offen empfangen. Vor allem Napirai wird von den Kindern ungeniert beäugt, was ihr mit einem Mal nicht geheuer ist. Auf jeden Fall möchte sie nicht, dass ich sie allein zurücklasse. Solch ein Verhalten ist eher ungewöhnlich bei ihr. Gott sei Dank legt sich diese Scheu in den folgenden Tagen. Es kommt jetzt öfter vor, dass sie gleich bei der Pflegefamilie oder bei meiner Mutter übernachten will, was mich dazu verleitet, häufiger auszugehen.

So manchen Abend bin ich mit Hanni unterwegs. Erst gehen wir essen und anschließend tanzen. Anscheinend kennt diese Frau Gott und die Welt. Wo wir auch hinkommen, trifft sie Leute und ich werde wie meistens als »die aus Afrika« vorgestellt, worauf natürlich gleich eine Menge Fragen gestellt werden. Auch fünf Jahre nach meiner Rückkehr ist das Interesse an meiner Liebesgeschichte nach wie vor ungebremst, und Hanni schimpft zum wiederholten Mal, ich solle endlich alles zu Papier bringen.

Ich will meine Geschichte aufschreiben

Ihre Sticheleien zeigen langsam Wirkung und immer öfter beschäftige ich mich mit der Idee, meine Geschichte aufzuschreiben. Zögernd nehme ich eines Abends einen karierten Schreibblock und einen Bleistift zur Hand und beginne, meine Gedanken neun Jahre zurückzuschicken. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Partner Marco in Mombasa landete, um unseren Urlaub anzutreten, und wie mich diese Aura und die damit verbundenen Eindrücke sofort tief bewegten und ich das seltsame Gefühl hatte, als sei ich nach langer Zeit nach Hause gekommen. Ich konnte mir das zu diesem Zeitpunkt nicht erklären und so traf mich die erste Begegnung mit Lketinga tief bis in mein Innerstes und mein ganzes Lebensfundament stürzte innerhalb von Sekunden ein. Ich sah ihn, und mein bisheriges Leben existierte nicht mehr. Ja, ich sehe, spüre und rieche wieder alles, als geschähe es ein zweites Mal, und meine Hand fängt wie von selbst an, diese Eindrücke aufs Papier zu bringen. Wie ein Film läuft die Geschichte vor meinem inneren Auge ab und ich muss keine Minute überlegen, was ich schreiben soll. Es schreibt einfach! Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als die Finger schmerzen, schaue ich auf die Uhr und bin erschrocken, weil es schon weit nach Mitternacht ist. »Oh Gott, ich muss ins Bett. Morgen ist wieder ein arbeitsreicher Tag«, sage ich zu mir selbst und lege mich behutsam neben die schlafende Napirai. Im Bett finde ich keine Ruhe und in Gedanken schreibe ich noch weiter, bis ich endlich einschlafen kann.

Als ich am nächsten Tag nach der Arbeit meine Tochter abhole, lese ich meiner Mutter die ersten geschriebenen Seiten vor. Sie ist sehr überrascht, aber begeistert. »Willst du jetzt ein Buch schreiben?«, möchte sie wissen. Ich antworte: »Nein, nein, eigentlich möchte ich nur alles aufschreiben, damit Napirai später einmal erfährt, aus was für einer großen Liebe sie entstanden ist und warum ihre Eltern es dennoch nicht geschafft haben, zusammenzubleiben. Wenn mir etwas passieren sollte, könnte ihr niemand genaue Auskunft über ihre Herkunft geben.« Meine Mutter sucht gleich die Briefe, die ich ihr aus Afrika geschrieben habe, und gibt sie mir als Gedächtnisstütze mit.

Zu Hause bereite ich unser Abendessen vor und beschäftige mich anschließend mit Napirai. Um sieben Uhr geht sie zu Bett und ich erledige im Schnelldurchlauf meinen kleinen Haushalt. Dann endlich ist es so weit, dass ich Ruhe und Zeit habe, die am Vortag geschriebenen Seiten noch einmal durchzulesen. Innerhalb kürzester Zeit bin ich wieder in die Vergangenheit eingetaucht und schreibe automatisch weiter. Ich sehe Lketinga vor mir, während ich ihn als großen, schönen, sehr exotischen, fast femininen Mann mit sehnigem Muskelbau und wilden, glühenden Augen beschreibe. Das Licht der untergehenden Sonne verleiht seinem braunen Körper und seinem bemalten Gesicht mit den langen roten Haaren, die zu feinen Zöpfchen geflochten sind, einen besonderen Glanz. Sein langer Körper, nur mit einem roten Hüfttuch und ein paar farbigen Perlenketten bekleidet, wirkt schlicht und doch ergreifend schön. Aufs Neue empfinde ich die Bewunderung und die Anziehung, während ich meine Erinnerungen niederschreibe.

Plötzlich klingelt das Telefon. Aus der Vergangenheit aufgeschreckt, nehme ich den Hörer ab und melde mich ziemlich schroff. Es ist Madeleine, die fragt, ob sie mit einer Flasche Wein herüberkommen könne, um etwas zu besprechen. Normalerweise freue ich mich, doch jetzt möchte ich nicht in die Realität zurückgeholt werden. Schon höre ich Madeleine sagen: »Hey, Corinne, was ist los mit dir? Hast du Besuch und störe ich dich gerade?« Etwas beschämt über mein Verhalten sage ich: »Ja klar, komm rüber, ich muss dir auch etwas zeigen.« Kurz darauf klopft es an meiner Tür und Madeleine schlüpft strahlend mit einer Flasche Rotwein unterm Arm an mir vorbei ins Wohnzimmer. Auf ihre Frage, warum ich so zerstreut sei, hole ich die beschriebenen Blätter und beginne vorzulesen. Als ich fertig bin, ist sie fasziniert und meint: »Gut, wirklich gut! Aber wenn ich daran denke, wie viel Zeit du brauchen wirst, um das alles aufzuschreiben, werden wir wohl in Zukunft an den Abenden kürzer treten müssen. Auf jeden Fall bin ich gespannt, wie es weitergeht!«

Innerhalb der nächsten zwei, drei Monate verschlechtert sich in der Arbeit das Betriebsklima drastisch, so dass der »alte« Chef kündigt und die Firma verlässt, was viele, auch mich, verunsichert. Schon bald bläst ein anderer Wind im Betrieb. Einmal komme ich zur Sitzung und finde die Sekretärin vom Empfang in Tränen aufgelöst vor. Ein anderes Mal tobt ein lautes Wortgefecht. Mit den Bestellungen läuft auch nicht mehr alles rund und die ersten größeren Reklamationen seitens meiner Kundschaft treffen ein. Ich hoffe immer noch, dass sich die Lage wieder entspannen wird. Wichtiger allerdings ist mir zur Zeit mein abendliches Schreiben, das sich langsam fast zur Sucht entwickelt.


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