Hallo Corinne und Napirai
Ich grüße euch, Gott sei mit euch. Ich bete, dass ihr das Neue Jahr 1997 erlebt und genießt. Hier in Kenia haben wir keinen Frieden mehr. Die Leute kämpfen jeden Tag. Viele Turkana und Samburu haben Gewehre. So etwas haben wir noch nie erlebt. Es gab einen großen Stammeskampf zwischen dem 24. Dezember und dem 3. Januar. Die betroffenen Plätze waren Baragoi, Marti, Barsaloi, Opiroi und viele mehr. Viele Menschen wurden getötet, elf in Barsaloi, von meiner Familie zwei, ein Mädchen und ein alter Mann, aber niemand aus unserem Kral. Alle unsere Tiere, Ziegen, Kühe, Kamele wurden geraubt, nichts ist geblieben. Alle Leute sind geflohen und leben nun in Maralal. In den Dörfern Barsaloi, Baragoi, Opiroi wohnt niemand mehr. Die Menschen leben wie Flüchtlinge, sie haben nichts zu essen. Auch haben wir nicht genug Platz in Maralal. Es gibt zu wenige Häuser, um darin zu leben. Ich glaube, dass viele Menschen an der Armut sterben werden. Es gibt keinen Unterricht mehr, weil die Leute weggelaufen sind. Auch die Schule in Maralal ist nun leer. Vielleicht hast du es im Radio gehört oder in den Zeitungen gelesen, dass Banditen mit dem Helikopter kamen und unseren Distrikt-Officer und zwei Polizisten getötet haben. Zwischen Weihnachten und dem Neuen Jahr war für uns eine ganz schlimme Zeit. Deshalb haben wir nicht gefeiert. Meine Familie lebt nun in der Nähe von Maralal bei der Schule. Ich hoffe, du weißt noch, wo das ist. Niemand von ihnen hat ein Haus oder Tiere und sie sind auf das Essen von anderen Leuten angewiesen. Corinne und Napirai, ich hoffe, euch geht es gut. Bitte hilf uns über mein Konto, damit wir etwas zu essen kaufen können. Wenn ich die Chance habe, nach Barsaloi zu kommen, will ich dir die Fotos von einer Zeremonie senden, die letzten Monat stattfand. Doch die Leute dort kämpfen immer noch und es gibt keinen Frieden im Samburu-Distrikt. Die Menschen gehen alle fort. Ich wünsche dir und Napirai und deinen Freunden ein glückliches Neues Jahr 1997. Gott gebe euch Frieden und ein gutes Leben.
Bei der Vorstellung, wie schlecht es diesen Menschen geht, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Die geliebte Mama musste nach Maralal fliehen, sie, die in ihrem ganzen Leben nur einmal in diesem kleinen Städtchen war. Nie wollte sie in meinem Auto mitfahren, denn das Stadtleben empfand sie als erschreckend. Sie liebte ihr Barsaloi und lebte, außer wenn eine Zeremonie das Umziehen an einen anderen Ort erforderte, ausschließlich und zufrieden um ihre Manyatta herum. Und nun das! Sicher mussten sie durch den gefährlichen Lorroki-Dschungel flüchten, und das mit mehreren Kleinkindern. Während ich mir das Schicksal meiner Samburu-Familie ausmale, wird mir schlagartig klar, dass ich jetzt ebenfalls vor dem Nichts stehen würde, wenn die Beziehung zwischen Lketinga und mir gut gegangen wäre. Spätestens jetzt würde mich die letzte Kraft verlassen. Bei diesem Gedanken spüre ich eine große Erleichterung, in der sicheren Schweiz zu leben, fühle mich gleichzeitig aber unendlich verbunden mit diesen Menschen. Dass es immer diejenigen treffen muss, die ohnehin schon bescheiden leben! Sofort fahre ich zur Bank, um einen größeren Betrag zu überweisen, damit sie Nahrungsmittel und Ziegen kaufen können und bete für sie. Ein tröstender Brief geht ebenfalls zur Post.
Anfang März fahre ich erneut zu einer Fortbildung, diesmal nach Holland. Die neue Produkt-Palette imponiert mir und ich kann mich von Anfang an gut damit identifizieren. Richtig aufgekratzt komme ich aus Holland zurück und möchte mein Wissen auch anwenden. Weil ich dafür aber einige Minuten Aufmerksamkeit von den Zahnärzten brauche, wechsle ich die Taktik, damit ich nicht schon an der Theke abgespeist werde. Ich besuche in einer Stadt alle Zahnärzte und versuche, einen Termin für die nächsten Tage zu bekommen. Da wir attraktive Einführungsangebote haben, klappt das fast bei der Hälfte der besuchten Praxen. Mein Terminkalender füllt sich und nach einem halben Jahr stellt sich langsam der Erfolg ein. Eine Nachbarin erzählt mir von einer Neubauwohnung in unserem Dorf, die noch frei ist und die man besichtigen kann. Obwohl mir die Miete zu teuer erscheint, schaue ich sie mir dennoch an. Und natürlich kommt es, wie es kommen musste! Diese Wohnung ist absolut die schönste, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Sie hat große Fenster, ist offen und sehr geräumig. Ich bin begeistert, wenngleich ich alles nur mit Taschenlampe besichtigen kann, da noch kein Strom angeschlossen ist. Die Höhe der Miete ist plötzlich unwichtig und meine Entscheidung sofort gefällt. Zum Glück bekomme ich diese Traumwohnung zugesprochen. Am 1. April ziehen wir bereits ein. Der Abschied von der alten Umgebung fällt uns allerdings sehr schwer. Die Mädchen sind eine verschworene Gemeinschaft geworden und auch ich fühlte mich in der Gesellschaft dieser Nachbarn wohl.
Das Einleben in der neuen Wohnung ist alles andere als einfach. Napirai schlief bis jetzt immer bei mir und hat nun zum ersten Mal ein eigenes Zimmer. Statt abends zu schlafen, ruft sie alle fünf Minuten: »Mama, bist du noch da? Ich kann dich nicht hören und sehen! Mama, ich möchte doch lieber wieder in unsere alte Wohnung zurück!« Aber auch diese Probleme legen sich nach ein paar Wochen und ich genieße unsere Behausung wie ein Schmuckstück. Während ich abends vor dem Kaminfeuer sitze, träume ich vor mich hin und denke noch viel an Afrika. Der Geruch von Feuer weckt nach wie vor die Bilder der Erinnerung. Ich sehe, wie ich am Boden vor der Feuerstelle hocke und ein einfaches Essen zubereite oder für Lketinga und seine Kriegerfreunde einen Tee koche. Noch immer spüre ich das wohlige Empfinden in unserer Manyatta, die mir, trotz aller Einfachheit, Schutz bot vor Hitze, Kälte, Regen oder wilden Tieren. Es wird mir bewusst, dass ich in keiner meiner noch so schönen Schweizer Wohnungen ein ähnliches Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit gespürt habe. Dennoch muss ich feststellen, dass ich einen gewissen Luxus durchaus wieder genießen kann. Dabei wollte ich doch nach meiner Rückkehr nur noch mit dem Nötigsten leben. Heute habe ich eine moderne Wohnungseinrichtung gekauft. Die Secondhand-Shops besuche ich nur selten und auch sonst häufen sich wieder Gegenstände an, die alles andere als notwendig sind. Ich habe mir den Lebensstandard aus der Zeit vor Afrika zurück erarbeitet und trotz einiger Bedenken bin ich stolz darauf.
Napirai findet schnell Kontakt zu den Mädchen, die in unserer neuen Wohngegend leben, und so lösen sich die »alten« Verbindungen allmählich. Bei der Pflegefamilie fühlt sie sich wie zu Hause und ihre Großmutter wohnt direkt an ihrem Schulweg.
Mein Beruf erfüllt mich ganz und gar. Mittlerweile besuche ich verschiedene Praxen zum zweiten Mal und der Empfang ist nun lockerer und freundlicher. Bei den häufigen Fortbildungen und Kursen nehmen wir als Zuschauer auch an Kieferoperationen teil. Nicht für jeden von uns ist es leicht, den Anblick von Blut und das Bohren im Kiefer zu ertragen. Mir kommt dabei wohl zugute, dass ich bei den Samburu erlebt habe, wie die Männer Blut zur Stärkung tranken, nachdem ein Tier geschlachtet wurde. Nach dieser harten Schule ist für mich der Anblick von Blut nichts Besonderes mehr.
Eines Abends, ich bin gerade beim Verfassen des Tagesberichtes für die Firma, klingelt das Telefon. Es meldet sich die mir bekannte Stimme des Verlegers aus München. Oh je, an das Manuskript hatte ich gar nicht mehr gedacht! So viel hat sich durch den neuen Job und den Umzug im letzten halben Jahr geändert. Meine aufgeschriebenen Erlebnisse sind im Moment weit weggerückt. Und nun höre ich, wie der Verleger sagt: »Es sieht gut aus mit Ihrem spannenden Lebensbericht. Doch bevor wir uns endgültig entscheiden, wäre es wichtig, Sie persönlich kennen zu lernen.«