Der Brief macht mich wütend. Ich lese ihn ein zweites Mal und stelle dabei fest, dass ein vorheriger Brief bei mir offensichtlich nicht angekommen ist. So weiß ich immer noch nicht, wie die Menschen in Barsaloi auf unsere Ausreise reagiert haben und wie James das Geld für die Fahrt nach Mombasa bekommen hat. Auch schließe ich daraus, dass er nicht zu Hause in Barsaloi war, sondern gleich nach dem Ende der Schule von Eldoret nach Mombasa gefahren ist. Was mich aber richtig wütend macht, ist die Tatsache, dass Lketinga nach allem, was James für ihn getan hat, ihm nicht einmal sein Schulgeld mitgeben wollte. Er kam auf meinen Wunsch nach Mombasa, um Lketinga zu helfen und beizustehen, und der lässt ihn einfach im Stich. James ist doch sein kleiner Bruder!

Ich weiß, wie verschieden die beiden sind. James ist etwa 13 Jahre jünger, das genaue Geburtsjahr kennt er nicht. Wie alle anderen wurde auch er vom Distrikt-Officer nur ungefähr eingeschätzt. Keiner kennt seinen tatsächlichen Geburtstag. Der große Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass James zur Schule geht, Lketinga aber nie eine solche besucht hat. Sie scheinen aus zwei völlig verschiedenen Welten zu kommen.

Lketinga, der bis vor kurzem den Status eines Kriegers inne hatte, kann nicht lesen und schreiben und ist im Busch mit den alten Ritualen und Bräuchen aufgewachsen. James dagegen besucht als Jüngster und Einziger der Familie seit seinem siebten Lebensjahr die Schule, die durch die Mission finanziert wird. Bei Meinungsverschiedenheiten hörte ich Lketinga oft sagen: »Ach, das sind doch keine richtigen Männer mehr, die waren nie im Busch, stattdessen sitzen sie nur in der Schule herum. They don't know about life!«

Von James und den anderen Schuljungen dagegen hörte ich: »Weißt du, das kannst du nicht mit diesen Leuten besprechen. Die verstehen dich überhaupt nicht, weil sie nichts von der Welt wissen. Sie kennen nur den Busch und das Überleben mit ihren Tieren. Sie wissen nicht, was in der Welt draußen passiert.«

Es kam mir manchmal vor, als wären sie sich ganz und gar fremd. Trotzdem habe ich angenommen, dass Lketinga seinem Bruder zumindest in einer solchen Situation vertraut und hilft.

Die durch den Brief ausgelöste Wut treibt mich erneut zum Handeln. Über den internationalen Auskunftsdienst lasse ich mir die Telefonnummer des Inders heraussuchen und nehme Kontakt zu ihm auf. Er ist sehr überrascht von meinen Erzählungen und der Tatsache, dass ich nicht mehr zurückkommen werde. Lketinga habe ihm erst vor ein paar Tagen gesagt, dass ich im Urlaub sei und bald wieder zurückkäme. Er bedauert meinen Entschluss, doch ist er damit einverstanden, mit Lketinga die Verhandlung für die Shopübergabe aufzunehmen, da er ohne mich auch keine Überlebenschance für den Laden sieht. Ich bedanke mich und bin erleichtert, dass wenigstens hinsichtlich des Shops keine Probleme mehr auf Lketinga zukommen werden. Was er mit dem vielen Geld machen wird, weiß ich nicht. Ich kann nur hoffen, dass er nicht alles für Bier und Miraa ausgibt. Sofort teile ich James das Vereinbarte in einem Antwortbrief mit.

Die ganze Aufregung hat aber auch etwas Gutes. Hier in der Schweiz sitze ich nur untätig herum und warte auf den Bescheid von der Fremdenpolizei. Doch wenn es um Kenia geht, habe ich keine Hemmungen und handle mit erstaunlicher Kraft. Auf diese Weise wächst mein Selbstvertrauen und der Wunsch, wieder zu arbeiten. Meine neue Umgebung ist mir nicht mehr ganz so fremd, und langsam nehme ich wieder an Gewicht zu. Ich versuche häufiger, normales Essen statt Diätkost zu mir zu nehmen und stelle glücklich fest, dass ich von Woche zu Woche weniger Probleme mit dem Magen habe.

Kurz vor Weihnachten genießen Napirai und ich den ersten Schnee. Es ist zwar enorm kalt, doch mittlerweile stört es mich nicht mehr. Im Gegenteil, ich empfinde das Wetter hier mit einem Mal viel spannender als tagaus tagein den tiefblauen Himmel mit seiner sengenden Sonne, die die Vegetation verdorren lässt. Und wenn es nach monatelangem Sonnenschein dann endlich einmal regnet, ist alles überschwemmt und für Mensch und Tier besteht manchmal sogar Lebensgefahr. Nach diesen Erfahrungen kann ich mich über Regen, Schnee und sogar den Nebel wieder freuen.

Ein paar Tage vor Weihnachten gehen wir mit meiner Mutter auf eine Einkaufstour nach Rapperswil. Es ist unglaublich, was in den Geschäften alles ausgestellt wird! Ich nehme mir vor, in Zukunft nur mit dem Nötigsten auskommen zu wollen. Diesen Überfluss braucht man doch nicht wirklich! Zufällig treffe ich meinen ehemaligen Chef aus der Zeit, als ich meine erste Anstellung im Außendienst bei einer Versicherungs-Gesellschaft hatte. Ich war damals bei ihnen mit 20 Jahren die erste Frau im Außendienst und hatte viel Erfolg. Nach nur zwei Jahren hatte ich genug Geld gespart, um mich mit einem Brautkleidergeschäft selbstständig zu machen. Die Idee, mit Neu- und Secondhand-Kleidern zu handeln, gefiel mir so gut, dass ich den Sprung in die Selbstständigkeit wagte. Er hingegen bedauerte meinen Entschluss sehr. Nun steht er mir plötzlich gegenüber und staunt über meine Erzählungen und Erlebnisse. Zum Schluss gibt er mir seine Karte und meint, er würde mich jederzeit wieder einstellen, ich müsse ihn nur anrufen. Nachdem wir uns verabschiedet haben, strahle ich meine Mutter an und sage: »Siehst du, wie schnell ich wieder Arbeit finden würde!«

Auch wenn ich nicht im Sinn habe, gleich wieder in diese Branche einzusteigen, so hat mir die Unterhaltung doch sehr gut getan. Mein Selbstbewusstsein hat einen ersten großen Schub bekommen. Schließlich war es das erste Gespräch mit einem Mann, zudem mit einem, der mich aus einer Zeit kannte, in der ich vor Selbstvertrauen strotzte. Und dann gleich dieses Angebot! Wie ernst auch immer es gemeint ist, ich schwebe im siebten Himmel, allein schon deshalb, weil er mir etwas zutraut. Ich teile meiner Mutter mit, dass ich nach den Feiertagen bei der Fremdenpolizei nachfragen werde, wie es nun mit uns weitergeht, da auch bald meine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen sein wird. Sie ist eher dafür, dass ich mich ruhig und abwartend verhalten soll.

Ich freue mich darauf, wieder einmal ein richtiges Weihnachtsfest zu feiern mit Schnee und Kälte und allem, was dazu gehört. In Kenia kam nie Weihnachtsstimmung auf, weil es um diese Zeit meist unerträglich heiß war. Das Einzige, was mich dort an das Fest erinnerte, waren die älteren Menschen in Barsaloi, die zur Mission pilgerten, um ihre neuen Wolldecken und etwas Maismehl abzuholen. Die, die regelmäßig in die »Buschkirche« gingen, bekamen am Ende des Jahres diese Geschenke, was Mama sich natürlich nicht entgehen ließ. Innerlich schmunzelnd beobachtete ich sie jedes Mal, wenn sie ihren berechnenden Gang zur Mission antrat.

An Heilig Abend kommt nahezu unsere ganze Familie zusammen, weil meine Mutter am Weihnachtstag auch noch ihren Geburtstag feiert. Nur Eric, mein jüngerer Bruder, wird mit seiner Frau Jelly erst zwei Tage später kommen, da sie mit ihren beiden Söhnen bei sich zu Hause feiern wollen. Unter dem Weihnachtsbaum stapeln sich die Geschenke für mein Mädchen. Alle wollen sie beschenken. Napirai kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie reißt ein Päckchen nach dem anderen auf und weiß gar nicht, womit sie zuerst spielen soll. Mir wird es zu viel, denn genau das wollte ich verhindern.

Zwei oder drei Päckchen wären mehr als genug gewesen. Wo sollen wir auch hin mit all diesem »Zeug«? Napirai ist ohnehin am zufriedensten, wenn ich mit ihr auf einen Spielplatz gehe, auf dem sie mit anderen Kindern spielen kann.

Dann aber genieße ich es doch sehr, mit meiner Familie an einem wunderschön gedeckten Tisch zu sitzen und unser traditionelles Fondue Bourguignonne zu verspeisen. Beim Anblick der Platte mit der eigentlich nicht unbeträchtlichen Menge Fleisch muss ich plötzlich lachen. Weil mich die anderen verwundert anschauen, erkläre ich ihnen den Grund meiner Heiterkeit: »Wenn jetzt Lketinga hier wäre, könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses kleine Fleischhäufchen hier für alle reicht. Er kann mit einem zweiten Krieger in einer Nacht locker eine mittlere Ziege verzehren.«


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