Clive Cussler

Packeis

Prolog

Ostpreußen 1944

Der Mercedes-Benz 770 W 150 »Großer Tourenwagen« wog mehr als vier Tonnen und war mit Stahlarmierungen versehen wie ein Panzer. Dennoch schien die siebensitzige Limousine wie ein Geist über die Decke aus frisch gefallenem Schnee hinwegzuschweben, während sie mit ausgeschalteten Scheinwerfern an schlummernden Maisfeldern vorbeiglitt, die im bläulichen Schein des Mondes funkelten.

Als der Wagen sich einem verdunkelten Bauernhaus näherte, das in einer leichten Senke stand, trat der Fahrer behutsam auf die Bremse. Der Wagen verfiel in Schritttempo, schob sich mit der Heimlichkeit einer Katze auf Mäusejagd an das niedrige Gebäude aus Naturstein heran.

Mit Augen, die die Farbe von Polareis hatten, blickte der Fahrer aufmerksam durch die mit Raureif bedeckte Windschutzscheibe. Das Gebäude schien leer und verlassen zu sein, doch er wollte kein Risiko eingehen. Weiße Farbe war hastig über den langen schwarzen Stahlkörper des Wagens gepinselt worden. Der plumpe Versuch einer Tarnung machte das Automobil für die Sturmowik Schlachtflugzeuge, die am Himmel kreisten wie hungrige Raubvögel, so gut wie unsichtbar, doch der Mercedes war den russischen Patrouillen, die wie Geistererscheinungen plötzlich aus dem Schnee hochsprangen, nur knapp entkommen. Gewehrkugeln hatten die Panzerung an einem Dutzend Stellen eingedellt.

Daher wartete er.

Der Mann, der ausgestreckt auf dem geräumigen Rücksitz der viertürigen Limousine lag, hatte gespürt, wie der Wagen bremste. Er richtete sich auf und vertrieb mit einem Blinzeln den Schlaf aus seinen Augen.

»Was ist los?«, fragte er. Er sprach Deutsch mit ungarischem Akzent. Seine Stimme war belegt vom Schlaf.

Der Chauffeur bedeutete seinem Fahrgast zu schweigen.

»Irgendetwas ist nicht …«

Das Rattern von Maschinenpistolen zerschmetterte die glasige Stille der Nacht.

Der Fahrer rammte den Fuß aufs Bremspedal. Das massige Fahrzeug kam etwa fünfzig Meter vom Bauernhaus entfernt schlitternd zum Stehen. Der Fahrer schaltete die Zündung aus und griff nach der 9mm Luger, die auf dem Beifahrersitz lag. Seine Hand schloss sich fester um den Griff der Luger, als eine stämmige Gestalt in olivfarbener Uniform und Pelzmütze der Roten Armee aus der Vordertür des Bauernhauses herausstolperte.

Der Soldat umklammerte seinen Arm und heulte wie ein von einer Biene gestochener Bulle.

»Verdammte Faschistenhure!«, brüllte er mehrmals. Seine Stimme war heiser vor Wut und Schmerzen.

Der russische Soldat war erst vor wenigen Minuten in das Bauernhaus eingedrungen. Das Bauernpaar hatte sich in einem Schrank versteckt, zusammengekauert unter einer Decke wie Kinder, die Angst vor der Dunkelheit haben. Er hatte den Ehemann mit einer Kugel getötet und dann der Frau, die in die winzige Küche geflüchtet war, seine Aufmerksamkeit zugewandt.

Während er sich seine Waffe über die Schulter hängte, hatte er den Zeigefinger gekrümmt und gesäuselt: »Frau, komm«, das besänftigende Vorspiel zur Vergewaltigung.

Das mit Wodka getränkte Gehirn des Soldaten versäumte, ihn zu warnen, dass er in Gefahr schwebte. Die Frau des Bauern hatte nicht um Gnade gebettelt oder war in Tränen ausgebrochen wie die anderen Frauen, die er vor ihr vergewaltigt und ermordet hatte. Sie hatte ihn mit glühenden Augen angestarrt, hatte ein Fleischmesser hinterm Rücken hervorgezogen und damit auf sein Gesicht gezielt. Er hatte im Mondlicht, das durch die Fenster hereindrang, nur ein Blitzen von Stahl wahrgenommen und den linken Arm hochgerissen, um sich zu schützen, doch die scharfe Klinge war durch den Ärmel hindurch in seinen Unterarm gedrungen. Daraufhin hatte er die Frau mit der anderen Hand zu Boden gestoßen. Doch selbst da hatte sie weiter um das Messer gekämpft. Rasend vor Wut hatte er sie mit wilden Feuerstößen aus seiner PPS-43 Maschinenpistole praktisch in zwei Hälften zerlegt.

Während er draußen vor dem Bauernhaus stand, inspizierte der Soldat seine Wunde. Der Schnitt war nicht besonders tief, und es traten nur noch wenige Blutstropfen aus dem Riss in der Haut. Er holte eine Flasche selbst gebrannten Wodkas aus der Tasche und leerte sie. Der feurig-scharfe Alkohol, der durch seine Kehle floss, trug dazu bei, den brennenden Schmerz in seinem Arm zu betäuben. Er schleuderte die leere Flasche in den Schnee, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und machte sich auf den Weg, um seinen Kameraden zu folgen. Er würde vor ihnen damit prahlen, sich die Wunde während eines Kampfs mit einer Bande Faschisten zugezogen zu haben.

Der Soldat trottete ein paar Schritte weit durch den Schnee, um abrupt stehen zu bleiben, als seine scharfen Ohren das leise Tick-tick des abkühlenden Automotors auffingen. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem großen grauen Fleck in den vom Mondschein erzeugten Schatten. Ein misstrauisches Stirnrunzeln erschien auf seiner breiten Bauernphysiognomie. Er nahm mit einer fließenden Bewegung die Maschinenpistole von der Schulter und richtete sie auf das undeutlich auszumachende Objekt. Sein Finger spannte sich um den Abzug.

Vier Scheinwerfer flammten auf. Der kraftvolle Acht-Zylinder-Reihenmotor erwachte röhrend zum Leben, und der Wagen machte einen Satz vorwärts, wobei sein Heck über die Schneedecke schlingerte. Der Russe versuchte, dem heranrasenden Fahrzeug auszuweichen. Die Ecke der wuchtigen Stoßstange erwischte sein Bein, und er wurde in den Straßengraben gefegt.

Der Wagen kam schlitternd zum Stehen, und der Fahrer stieg aus. Der hochgewachsene Mann ging durch den Schnee zu dem Soldaten, wobei sein langer schwarzer Ledermantel mit einem leisen Klatschen gegen seine Oberschenkel schlug. Der Mann hatte ein längliches Gesicht und ein ausgeprägtes Kinn. Sein kurz geschnittenes blondes Haar war unbedeckt, obgleich eine Temperatur von weit unter null Grad Celsius herrschte.

Er ging neben dem zu Boden geschleuderten Mann in die Hocke.

»Hast du Schmerzen, Towarisch?«, erkundigte er sich auf Russisch. Seine Stimme war tief und wohlklingend, und in ihr schwang das distanzierte Mitgefühl eines Arztes mit.

Der Soldat stöhnte. Er konnte sein Riesenpech nicht fassen. Erst diese deutsche Schlampe mit dem Messer, und jetzt dies.

Er schickte einen heiseren Fluch über seine mit schaumigem Speichel bedeckten Lippen. »Verflucht sei deine Mutter! Natürlich habe ich Schmerzen!«

Der hochgewachsene Mann zündete eine Zigarette an und schob sie zwischen die Lippen des Russen. »Ist jemand in dem Bauernhaus?«

Der Soldat machte einen tiefen Zug und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Er vermutete in diesem Fremden einen jener politischen Offiziere, die die Armee wie Schmeißfliegen umschwirrten.

»Zwei Faschisten«, antwortete der Russe. »Ein Mann und eine Frau.«

Der Fremde ging ins Bauernhaus und kam wenige Minuten später wieder heraus.

»Was ist passiert?«, fragte er und ließ sich abermals neben dem Soldaten in die Hocke sinken.

»Ich habe den Mann erschossen. Die Faschistenschlampe hat sich mit dem Messer auf mich gestürzt.«

»Gut gemacht.« Er klopfte dem Russen auf die Schulter. »Bist du alleine hier?«

Der Soldat knurrte wie ein Hund, der seinen Knochen verteidigt. »Ich teile niemals meine Beute oder meine Frauen.«

»Bei welcher Einheit bist du?«

»Bei General Galitskys Elfter Gardearmee«, erwiderte der Soldat mit Stolz in der Stimme.

»Ihr habt Nemmersdorf an der Grenze angegriffen?«

Der Soldat fletschte die Zähne. »Wir haben die Faschisten an die Tore ihrer Scheunen genagelt. Männer, Frauen und Kinder. Du hättest hören sollen, wie die Faschistenhunde um Gnade gewinselt haben.«

Der hochgewachsene Mann nickte. »Gut gemacht. Ich kann dich zu deinen Kameraden bringen. Wo sind sie?«


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