Kovacs umklammerte Karls Arm. »Können Sie auch meine Familie in Sicherheit bringen?«
»Ich fürchte, dazu ist es zu spät. Ihre Familie gibt es nicht mehr.«
»Aber die Briefe …«
»Sie waren raffinierte Fälschungen, damit Sie nicht den Mut verlieren und Ihre Arbeit aufgeben.«
Kovacs starrte mit einem Ausdruck hilfloser Verzweiflung in die Nacht.
Karl packte den Professor bei den Revers seines Mantels und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie müssen Ihre Arbeit zu Ihrem eigenen Nutzen und zum Wohle der Menschheit vergessen. Wir können nicht das Risiko eingehen, dass sie in falsche Hände fällt.«
Der Professor nickte stumpf. Das Boot stieß gegen den Rumpf des Frachters. Eine Leiter wurde herabgelassen. Karl befahl den widerstrebenden Matrosen, das Boot zu wenden und weitere Überlebende aus dem Wasser zu fischen. Vom Deck des Frachters aus verfolgte Kovacs, wie das Boot sich entfernte. Karl winkte ihm noch einmal zu, und das Boot verschwand hinter einem wallenden Vorhang dicker Schneeflocken.
In der Ferne sah Kovacs die Lichter des Passagierdampfers, der sich auf die Backbordseite gelegt hatte, so dass der Schornstein parallel zur Wasseroberfläche stand. Der Kessel explodierte, als das Schiff etwa eine Stunde, nachdem es von den Torpedos getroffen worden war, unterging. In dieser kurzen Zeit verloren auf der Wilhelm Gustloff fünfmal mehr Menschen ihr Leben als auf der Titanic.
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Niemand nahm denjenigen, die die Southern Belle zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, übel, wenn sie sich fragten, ob die Person, die dem riesigen Frachtdampfer seinen Namen gegeben hatte, über einen besonders verschrobenen Humor verfügte oder nur unter starker Kurzsichtigkeit litt. Trotz eines eleganten Namens, der an mit den Wimpern klimpernde, vorbürgerkriegstypische Weiblichkeit denken ließ, war die Belle, offen gesagt, eine stählerne Monstrosität mit nichts, das auch nur entfernt an weibliche Schönheit erinnerte.
Die Southern Belle gehörte zu einer neuen Generation schneller, seetüchtiger Schiffe, die nach Jahren, in denen die Vereinigten Staaten anderen Schiffe bauenden Nationen hinterhergehinkt waren, in amerikanischen Werften vom Stapel liefen. Sie war in San Diego entworfen und in Biloxi gebaut worden. Mit zweihundertdreißig Metern war sie länger als zwei Fußballfelder und bot genügend Raum, um fünfzehnhundert Container aufzunehmen.
Der wuchtige Kasten wurde von einem hoch aufragenden Aufbau auf seinem Achterdeck aus gesteuert. Das über dreißig Meter breite Deckhaus, das einem Apartmenthaus glich, enthielt die Quartiere und Messehallen für Mannschaft und Offiziere, ein Hospital und Behandlungszimmer, Frachtbüros und Konferenzsäle.
Mit ihren leuchtenden Reihen sechsundzwanzig Zoll großer berührungssensitiver Monitorschirme erinnerte die Brücke der Belle an einen Spielsaal in Las Vegas. Das geräumige Operationszentrum reflektierte die neue Ära im Schiffsbau. In jedem Bereich der integrierten Systeme und Funktionen wurden Computer eingesetzt.
Aber alte Gewohnheiten sterben nur langsam aus. Der Kapitän des Schiffs, Pierre »Pete« Beaumont, blickte durch ein Fernglas und traute immer noch seinen Augen mehr als den raffinierten elektronischen Spielereien, die ihm zur Verfügung standen.
Von seinem Aussichtsplatz auf der Brücke hatte Beaumont einen ungehinderten Blick auf das schrecklich schöne Panorama des atlantischen Unwetters, das um sein Schiff herum tobte. Heftige Winde mit Orkanstärke peitschten Wellen auf, die so hoch waren wie Häuser. Die Brecher ergossen sich über den Bug und überspülten die an Deck festgezurrten Container bis fast zur Mitte des Schiffs.
Das extreme Ausmaß von elementarer Gewalt, die um das Schiff herum wütete, hätte kleinere Schiffe verzweifelt Schutz suchen lassen und ihren Kapitänen schwitzende Hände beschert. Aber Beaumont war so ruhig, als schipperte er in einer Gondel durch den Canal Grande.
Der freundliche Südstaatler liebte Stürme. Er ergötzte sich an dem Geben und Nehmen zwischen seinem Schiff und den Elementen. Anzusehen, wie die Belle in einer atemberaubenden Demonstration von Kraft durch die Wellen pflügte, war für ihn schon fast ein sinnliches Vergnügen.
Beaumont war der erste und einzige Kapitän des Schiffs. Er hatte zugesehen, wie es gebaut wurde, und kannte jede Niete und jede Schraube auf dem Schiff. Es war für den regelmäßigen Verkehr zwischen Europa und Amerika konstruiert worden, eine Route, die es durch einige der wildesten und unangenehmsten Ozeanregionen der Erde führte. Er vertraute darauf, dass der Sturm innerhalb der Skala der Naturgewalten rangierte, denen zu widerstehen das Schiff gebaut worden war.
Das Schiff hatte in New Orleans seine Ladung aus synthetischem Gummi, Faserstoffen, Kunststoffgranulat und Maschinenteilen übernommen und war dann um Florida herum bis zu einem Punkt an der Atlantikküste gedampft, wo es auf seinen schnurgeraden Kurs nach Rotterdam einschwenkte.
Der Wetterbericht hatte mit seiner Vorhersage genau ins Schwarze getroffen. Wind mit Sturmstärke war angekündigt worden, der sich zu einem atlantischen Orkan entwickeln sollte. Das Unwetter erwischte das Schiff etwa dreihundert Kilometer vom Festland entfernt. Beaumont war kein bisschen beunruhigt, auch als der Sturm noch an Stärke zunahm. Das Schiff hatte schon viel schlimmeres Wetter ohne Probleme überstanden.
Er suchte den Ozean ab, als er plötzlich erstarrte und fast in sein Fernglas hineinkroch. Er ließ das Fernglas sinken, setzte es wieder an die Augen und murmelte etwas. Er wandte sich an seinen Ersten Offizier.
»Schauen Sie sich mal diesen Teil des Ozeans an. Etwa bei zwei Uhr. Sagen Sie mir, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.«
Der Offizier war Bobby Joe Butler, ein talentierter junger Mann, der aus Natchez stammte. Butler machte kein Geheimnis aus seinem Wunsch, eines Tages ein Schiff wie die Belle zu führen. Vielleicht sogar die Belle selbst. Indem er der Aufforderung des Kapitäns nachkam, betrachtete Butler den Ozean bei dreißig Grad Steuerbord.
Er sah nur graues, aufgewühltes Wasser, das sich bis zum nebelverhangenen Horizont erstreckte. Dann, etwa zwei Kilometer vom Schiff entfernt, gewahrte er eine weiße Linie aus Schaum, mindestens doppelt so hoch wie der Seegang dahinter. Noch während er rätselte, was es mit dieser Erscheinung auf sich haben könnte, wuchs die Wasserwand erschreckend schnell in die Höhe, als ob sie ihre Energie aus den Wellen ringsum gewann.
»Das sieht aus wie ein ziemlich großer Brecher, der da auf uns zurollt«, sagte Butler in seinem schleppenden Mississippiakzent.
»Was schätzen Sie, wie hoch?«
Der jüngere Mann blickte durch das Fernglas. »Die durchschnittliche Wellenhöhe beträgt etwa zehn Meter. Diese dort scheint doppelt so hoch zu sein. Donnerwetter! Haben Sie schon mal etwas so Mächtiges gesehen?«
»Noch nie«, antwortete der Kapitän. »In meinem ganzen Leben nicht.«
Der Kapitän wusste, dass sein Schiff mit der Welle fertig würde, wenn die Belle mit dem Bug hineintauchte, um ihr die Wucht einer Breitseite zu nehmen. Der Kapitän befahl dem Steuermann, den Autopiloten darauf zu programmieren, den Bug direkt auf die Welle auszurichten und vorerst diesen Kurs zu halten. Dann ergriff er das Mikrofon und betätigte einen Schalter auf dem Armaturenbrett, der die Brücke mit allen auf dem Schiff verteilten Lautsprechern verband.
»Alle Mann Achtung! Hier spricht der Kapitän. Eine Monsterwelle wird gleich aufs Schiff treffen. Jeder sucht sich einen sicheren Ort, möglichst weit entfernt von losen, eventuell herumfliegenden Gegenständen, und wartet ab. Der Aufprall wird heftig. Ich wiederhole. Der Aufprall wird heftig.«
Als Vorsichtsmaßnahme befahl er dem Funker, einen SOS-Ruf abzusetzen. Das Schiff konnte immer noch eine Entwarnung senden, falls der Hilferuf sich als unnötig erweisen sollte.