Unmittelbar darauf wurde eine riesige weiße Fahne geschwenkt.

Die Jacare ließ ihre beste Schaluppe zu Wasser, mit der Lucas Castano und acht bis an die Zähne bewaffnete Männer zur Vendaval übersetzten.

Ohne Widerstand ließ man sie an Bord kommen. Erst als der Panamese ein Zeichen gab, daß alle Kanonen entladen waren, machte man sich daran, den Feind zu entern.

Als Sebastian schließlich das verwüstete Deck betrat, mußte er zu seiner Verblüffung feststellen, daß ihn ein halbes Dutzend schreckensbleicher Frauen und eine Kinderschar vom Achterkastell aus betrachteten.

»Gütiger Gott!« rief er aus. »Die haben mit Frauen und Kindern an Bord eine Schlacht angefangen. Nicht möglich!«

Die übrige Besatzung der Jacare schien ähnlich fassungslos zu sein. Schließlich wollte der Schotte mit ärgerlicher Stimme wissen:

»Wer ist der Kapitän?«

Drei Männer deuteten auf eine der Leichen, die unter dem Achterkastell aufgereiht waren.

»Der Längste.«

Lucas Castano trat heran, musterte den Toten genau, drehte ihn um, bis dessen aufgerissene Augen in den Himmel starrten, dann schloß er sie mit verblüffender Gelassenheit. Ein ums andere Mal schüttelte er den Kopf, bis er sich schließlich aufrichtete und reichlich sarkastisch kommentierte:

»Merkwürdige Leiche, bei Gott! Hat die Brust voller Blei, doch sein wertvolles Hemd hat überhaupt nichts abbekommen.« Streng musterte er die Anwesenden und beharrte schließlich drohend auf seiner Frage: »Wer ist der Kapitän?«

Ein beleibter Mann mit zerfetztem schmutzigen Hemd und schwarzer Klappe über dem linken Auge trat vor.

»Das bin ich… Kapitän Rui Santos Pastrana, Marques de Antigua, im Dienste Ihrer Gnädigen Majestät.«

»Deine Gnädige Majestät kann mich mal kreuzweise«, entgegnete der Schotte mit beträchtlicher Schärfe in der Stimme.

»Und noch weniger kann ich ausstehen, daß mich jemand angreift, ohne vorher die Kriegsflagge zu hissen.« Er näherte sich seinem Gegenüber und hob dessen Augenklappe an, um sicherzugehen, daß er wirklich einen Einäugigen vor sich hatte. »Weißt du, welche Strafe die Seegesetze für eine solche Niedertracht vorsehen?«

»Im Kampf gegen Gesetzlose gibt es keine Vorschriften«, gab der Spanier mit augenfälliger Verachtung zurück. »Meine Befehle lauten, jedes Piraten- oder Korsarenschiff zu versenken, das meinen Weg kreuzt.«

»Tja, Pech gehabt, du Tölpel. Daß du ein schmutziger hinterhältiger Latino bist, reicht allein, um dich aufzuknüpfen, aber weil du dabei auch noch das Leben Unschuldiger in Gefahr bringst, hast du es wirklich verdient.« Der Schotte gab drei seiner Männer einen Wink und knurrte: »Hängt ihn auf!«

»Nein…!« Eine der Frauen, die die Szene verfolgt hatten, stürzte die kleine Treppe hinunter, warf sich Kapitän Jack zu Füßen und heulte wie von Sinnen: »Nein, Senor, um Gottes willen, tötet ihn nicht!« Sie drehte sich um und deutete auf die Kinderschar. »Was soll aus meinen Söhnen werden?«

»Eure Söhne?« gab der Angesprochene höchst verblüfft zurück. »Soll ich vielleicht glauben, Senora, daß es dieser Idiot gewagt hat, sich mit seiner Frau und seinen Kindern an Bord auf ein Piratenschiff zu stürzen?«

»So ist es, Senor. Die zwei kleinsten sind unsere Söhne. Ich flehe euch an!« Alle blickten auf die zwei kleinen Knaben, die noch keinen Meter groß waren und das Schauspiel mit schreckensweiten Augen verfolgten.

Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, erlebte Sebastián Heredia einen wirklich fassungslosen Kapitän Jack. Einen Augenblick zögerte der Schotte, schließlich aber ging er auf die Knaben zu, hockte sich zu dem Kleinsten und musterte ihn streng.

»Ist er wirklich euer Vater?« wollte er wissen.

Der Junge nickte.

»Und wie heißt er?«

»Papa.«

Der Glatzkopf verharrte einige Zeit, bis er schließlich einen tiefen Seufzer ausstieß.

»Ein guter Name, bei Gott! Der beste, den es gibt.« Er nahm den Kleinen beim Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. »Weißt du was, du Knirps? Wenn du geantwortet hättest, Rui Santos Pastrana, Marques de Antigua, wärst du in fünf Minuten eine Waise gewesen. Aber einen >Papa< kann man nicht einfach aufhängen.« Er richtete sich mühsam auf, musterte alle Anwesenden der Reihe nach und wandte sich schließlich Lucas Castano zu. »Schlag ihm die rechte Hand ab, damit man ihm nicht noch einmal das Kommando über ein Schiff gibt. Anschließend bekommt jeder Mann an Bord zwanzig Peitschenhiebe. Mit den Frauen könnt ihr machen, was ihr wollt, aber mißhandelt sie nicht. Alles von Wert schafft ihr auf die Jacare, denn wenn es dunkel wird, brechen wir auf.«

»Keiner rührt das Mädchen an!«

Alle drehten sich perplex um und schauten Miguel Heredia Ximénez an, der mit einer großen und scharfen Machete an der Reling stand. An seiner Entschlossenheit konnte kein Zweifel bestehen, und seine Augen funkelten, während er auf ein etwa 13jähriges Mädchen in der Frauenschar zeigte.

»Potztausend«, rief Kapitän Jack belustigt aus. »Du kannst ja sprechen! Was bist du doch für ein schweigsamer Kerl gewesen! Doch das sage ich dir, ein Kind ist die nicht mehr. Eigentlich ist sie die einzige Frau, die etwas taugt.«

»Sie muß so alt sein wie meine Tochter«, lautete die unbeirrte Antwort. »Und wer es wagt, sie anzurühren, den kastriere ich! Ihr seid gewarnt!«

Der Schotte musterte ihn, blinzelte spöttisch mit den Augen, dachte einige Sekunden nach und zuckte mit der Schulter.

»Also gut! Da es das erste ist, worum du mich bittest, und weil mir die Idee nicht gefällt, eine Bande von Kastrierten zu befehligen, gewähre ich dir diesen Wunsch unter der Bedingung, daß du in den nächsten fünf Jahren den Mund nicht mehr aufmachst.« Damit schien die Diskussion für ihn beendet zu sein. Er nahm die schluchzende Marquesa de Antigua am Handgelenk und schleifte sie in seine Kajüte auf der Jacare, während er kundgab: »Ach, ist das manchmal schwer, Senora, ein Pirat zu sein! So schwer!«

Die Frau folgte ihm, während sie sich die Tränen abwischte. Kein Opfer, mit dem sie das Leben des törichten Vaters ihrer Kinder retten konnte, schien ihr zu schwer. Miguel Heredia stieg zum Achterkastell hinauf und baute sich mit gut sichtbarer Machete neben dem Mädchen auf.

Lucas Castano drückte Sebastian seine zwei schweren blitzenden Pistolen in die Hand und deutete nach oben.

»Geh mit ihm! Hier gibt es manchen Hurensohn, der es riskiert, sich kastrieren zu lassen, wenn es um eine gute Jungfrau geht. Ich hab zu tun!«

Er hatte wirklich eine so schwere Arbeit vor sich, daß er um Hilfe bitten mußte. Es war weder leicht noch angenehm, einem Mann kaltblütig die Hand abzuschlagen und anschließend einer ganzen Besatzung ein »kariertes Hemd« auf den Rücken zu malen.

Mit gezückten Waffen stellte sich Sebastián Heredia Matamoros neben seinen Vater und betrachtete das stumme Schauspiel. So brutal ihre Strafe auch war, keines der Opfer ließ auch nur ein Jammern hören. Auch die Frauen ließen sich wie Lämmer in die Offizierskajüten führen. Dort wartete praktisch die gesamte lüsterne Besatzung der Jacare darauf, an die Reihe zu kommen.

Als sich Lucas Castano am Nachmittag seine Pistolen zurückholte, beschränkte sich Sebastián auf ein Murmeln:

»Es ist nicht gerecht.«

Der Panamese musterte ihn erstaunt.

»Doch, Junge, das ist gerecht! Wenn diese Fettsäcke uns besiegt hätten, wären wir jetzt nur noch Fischfutter. Wenn wir die schwarze Flagge hissen und der Feind sich ergibt, dann respektiert der Kapitän die Gesetze, und keiner wird bestraft, geschändet oder getötet.« Er spuckte aus, um seiner ganzen Verachtung Nachdruck zu verleihen. »Aber wenn sie ein schmutziges Spiel mit ihm treiben, dann zahlt er ihnen mit gleicher Münze heim, und das kann er stets besser.«

Er ließ sich an einem dicken Tau zum Deck der Jacare hinab, und der Junge beließ es dabei, seinen Vater anzusehen.

»Was meinst du dazu?« wollte er wissen.

»Daß er recht hat.«


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