»Ich habe deinen Fall studiert«, war das erste, was ihm die Hausherrin eröffnete. »Und ich bin zu dem Schluß gelangt, daß ich keine endgültige Diagnose stellen kann, ohne den Kranken selbst untersucht zu haben.«

»Und wie soll das gehen?«

»Das ist dein Problem, nicht meines«, entgegnete sie streng. »Du wirst einsehen, daß ich keine Lust habe, an Bord eines Piratenschiffs zu gehen, doch bin ich bereit, mich mit deinem >Kapitän< an einem Ort zu treffen, der für uns beide keine Gefahren birgt.«

»Und Euer Bruder?«

»Der kann noch wochenlang ausbleiben. Und er wird dir das gleiche sagen.« Sie läutete ein Glöckchen, worauf eine schwarze Dienerin an der Tür erschien. »Jetzt kannst du das Abendessen auftragen«, befahl sie trocken.

Sebastian stand ohne Zweifel das unvergeßlichste Abendessen seines Lebens bevor. Ein Dutzend schläfriger Papageien, die gelegentlich ein tiefes Krächzen hören ließen, schaute dabei zu. Man speiste im Schein der Kerzen, unter schattigen Bäumen. Papayas und Mangos verströmten einen intensiven Duft, und Sebastian sog das aufregende Parfüm der Frau ein, die plötzlich aus allen Poren ihres Körpers Sinnlichkeit ausstrahlte.

Die scheinbar so kalte, stolze und zurückhaltende Raquel Toledo erwies sich als die unersättlichste und leidenschaftlichste Geliebte. Sebastian, der an die schamlosen Prostituierten der Insel gewöhnt war, die schnell zur Sache kamen, war mehr als überrascht, was man in einer langen Nacht mit einer Frau anstellen konnte, die so ungemein erfahren war wie diese konvertierte Jüdin.

Sie lehrte ihn in Stunden, was ihm die abgebrühtesten Dirnen nicht in Jahren hatten beibringen können, denn was Raquel Toledo mit absoluter Selbstverständlichkeit unter raffinierter Fleischeslust verstand, ging weit über das hinaus, was man von irgendeiner anderen Frau ihrer Zeit erwarten konnte.

Eine Überraschung jagte die andere, und der zeitweilig eingeschüchterte Junge wechselte, beinahe ohne es zu merken, von der aktiven in die passive Rolle, denn seine geschickte Lehrerin nahm bald die Zügel in die Hand und führte ihn auf bis dahin unbekannte und dabei so angenehme Wege, daß er schließlich bei Anbruch des Tages erschöpft zusammensank. Er konnte es kaum fassen, daß man in einer einzigen Nacht so viele und so wundersame Heldentaten in der Liebeskunst vollbringen konnte.

Am folgenden Nachmittag ging er wieder an Bord der kleinen Schaluppe und setzte Kurs auf die fernen Islas del Rosario. Noch immer hatte er den Eindruck, bis zum Überdruß von einer Frau benutzt worden zu sein, für die Männer lediglich Objekte für den täglichen Gebrauch zu sein schienen.

»Ich weiß nicht, warum zum Teufel die nur Angst hat, an Bord eines Piratenschiffs zu gehen«, sagte er sich. »Die einzigen, die sich dabei wirklich einer Gefahr aussetzen, sind die Piraten. Ich glaube, die könnte es mit der ganzen Besatzung aufnehmen, ohne daß dabei auch nur ihre Haare unordentlich würden.«

Vier Meilen vom Archipel entfernt kreuzte die Jacare seinen Weg, und kaum hatte Sebastian das Deck betreten, lief er in die Kajüte des Kapitäns, um ihm zu erzählen, was vorgefallen war. Die verwirrenden Ereignisse der letzten Nacht erwähnte er dabei natürlich nicht.

»Kann man ihr vertrauen?« wollte der Schotte als erstes wissen. »Soweit ich weiß, sind momentan fünftausend Dublonen auf meinen Kopf ausgesetzt.«

»Ich habe den Eindruck, daß sie ihren eigenen höher schätzt. Und sie ist wohl intelligent genug, um zu begreifen, daß wir sie beim geringsten Anzeichen von Verrat in Stücke schießen.«

»Wie ist sie?«

»Außergewöhnlich.«

»Was soll das heißen?«

»Daß sie anders ist als alle anderen Frauen, die ich je kennengelernt habe…« Sebastián machte eine kleine Pause. »Und alle Männer.«

»Sie ist Jüdin.«

»Zum Christentum übergetreten. Und das tut eigentlich nicht viel zur Sache.« Der Junge stieß einen tiefen Seufzer aus, um es endlich zuzugeben: »Ehrlich gesagt, weiß ich noch immer nicht, was ich von ihr halten soll. An ihrer Seite fühle ich mich winzig.«

»Winzig?« wiederholte der Schotte ungläubig. »Da denke ich, einen Mann aus dir gemacht zu haben, und du kommst mir mit so was. Wovon redest du, zum Teufel?«

»Von Raquel Toledo, Kapitän…«Sebastián senkte die Stimme, als fürchtete er, jemand anderer könnte ihn hören, und fügte fast wispernd hinzu: »Sie hat mich besessen.«

Der Glatzkopf musterte ihn entgeistert.

»Sie hat dich besessen?« entgegnete er im gleichen, fast unhörbaren Ton, während er mit geballter Faust eine unzweideutige Handbewegung machte. »Willst du sagen, daß sie dich vergewaltigt hat? Richtig vergewaltigt?«

»Nein, Kapitän! Seid doch nicht so roh! Doch nicht so was«, protestierte der andere. »Wie sollte mich eine Frau vergewaltigen?«

»Was weiß ich denn? Vielleicht war sie ja ein verkleideter Sodomit.« Er zuckte mit den Schultern. »Soll ja schon vorgekommen sein!«

»Kein Sodomit!« ereiferte sich der Junge. »Eine Frau. Die weiblichste Frau der Welt.«

»Also weiter? Sprich dich aus!«

Zähneknirschend erzählte der Junge, der nicht wußte, ob er sich verlegen, schuldig oder stolz fühlen sollte, alle Einzelheiten seiner fast unglaublichen erotischen Abenteuer der vergangenen Nacht. Der grobschlächtige und blutrünstige Pirat hörte mit offenem Mund zu und vergaß wenigstens für einen längeren Augenblick seine Qualen, die ihm die Wunden und die Würmer bereiteten.

»Ich kann’s nicht glauben!« wiederholte er ein ums andere Mal. »Das hat sie wirklich gemacht? Meine Güte! Also noch mal, sie hat dich gebadet, ans Bett gefesselt und dann mit der Zunge… Verdammt, und mich fressen die Würmer auf. Wenn sie so was schon mit einem Schiffsjungen treibt, was zum Teufel macht sie dann erst mit einem Kapitän?« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die muß ich kennenlernen«, schloß er. »Ich kann nicht sterben, bevor ich nicht jemanden getroffen habe, der solche Dinge tut.«

»Und wie stellen wir das an?«

»Laß mich nachdenken.«

Am folgenden Tag ließ Kapitän Jack Sebastian schon im Morgengrauen rufen, gab ihm einige sehr präzise Befehle und schärfte ihm ein, diese wortwörtlich auszuführen. Kurze Zeit später verabschiedete sich der Junge erneut von seinem Vater und ging mit seiner Schaluppe zum zweiten Mal auf Kurs Cartagena.

Schon in Sichtweite der Hafenfestungen mußte er eine gute Stunde lang beidrehen, weil eine sanfte Brise von Land her wehte und in diesem Augenblick drei riesige Galeonen, die von einem schnellen Kriegsschiff mit über 70 Geschützen begleitet wurden, in den Hafen einfuhren.

Mit so schwerfälligen Schiffen, die quadratische Segel gesetzt hatten, war es wahrlich keine leichte Aufgabe, bei Gegenwind die tiefste Stelle in der Bucht anzusteuern. Der Margariteno mußte zugeben, daß Kapitäne und Besatzungen ihr Handwerk verstanden, denn eine nach der anderen defilierten die Galeonen an den Festungen San Fernando und San Jose vorbei, die zu ihrer Ankunft Salut schossen.

Sebastian folgte ihnen in die Bucht und fragte sich, ob die Galeonen wohl Gold aus Mexiko oder Silber aus Peru geladen hatten, oder ob sie Quecksilber aus Almaden an Bord hatten, das für die Bergwerke von Potosi bestimmt war.

Dann steuerte er auf den Fischerhafen zu, und als es dunkel wurde, ergriff er mit zitternder Hand den schweren Türklopfer in Form eines Wasserspeiers und hämmerte damit an die dicke Pforte des Hauses mit den Papageien.

Raquel Toledo empfing ihn in einem feinen blütenweißen Kleid, und nach einem üppigen und köstlichen Abendessen, das wieder im Garten serviert wurde, fiel sie wiederum wie eine Spinne über ihr schutzloses und hypnotisiertes Opfer her und praktizierte an ihm alle möglichen Zaubereien, als wären die Kenntnisse dieser himmlischen Frau in den kompliziertesten Formen der Liebeskunst ohne Grenzen.

»Wo hast du das alles gelernt?« wollte Sebastián in einer jener kurzen Pausen wissen, die sie ihm zugestand.


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