»Ich muß darüber nachdenken.«

»Du hast zwei Tage.«

Sebastian war froh, nach dem Gestank eines lebendigen Toten in der Kabine wieder frische Morgenluft atmen zu können. Er ließ sich auf dem Achterkastell nieder, unweit der Stelle, an der sein Kapitän Platz zu nehmen pflegte, als wollte er sich ein Bild davon machen, was es bedeutete, Kapitän eines Schiffs zu sein und Befehle zu geben, denen keiner widersprach.

Ein großartiges Angebot, ohne Zweifel. Was waren schon die Perlen, die lediglich einen Frauenhals schmücken konnten, gegen die Jacare, gegen das kühnste und stolzeste Schiff der Weltmeere?

Er frage sich, ob er es befehligen konnte.

Das Schiff, bestimmt.

Die Besatzung, wahrscheinlich nicht.

Immerhin waren es Piraten.

Alte blutrünstige Piraten, die einen Befehlshaber nötig hatten, der sie, falls sie nicht spurten, auch zu den Haien schicken konnte. Der Junge zweifelte, ob er jemals zu so einem Befehl fähig sein würde.

Er ließ die Augen über Deck wandern und musterte die vertrauten Gesichter unter einem ganz neuen Blickwinkel, als wollte er herausfinden, wem er einen Verrat zutrauen mußte, und schließlich kam er zu einem beunruhigenden Schluß: Fast die Hälfte dieser zerlumpten Halunkenschar würde nicht mit der Wimper zucken, ihn zu gegebener Stunde an einen riesigen Anker zu binden.

»Woran denkst du?«

Er drehte sich zu Lucas Castano um, der ihn offensichtlich schon längere Zeit an die Reling gelehnt beobachtet hatte. Sebastian kannte den Panamesen gut genug, um sich klar zu sein, daß Lucas genau wußte, worum sich der Junge Sorgen machte. Daher deutete er lediglich auf die Kapitänskajüte und fragte:

»Hat er es dir gesagt?«

»Ich hab’s ihm vorgeschlagen.«

»Eigentlich solltest du seinen Posten übernehmen, wenn er aufhört.«

»Das meiste Geld habe ich in Huren und Rum investiert«, versetzte der andere und schnalzte mit der Zunge, als wolle er sich über sich selbst lustig machen. »Den Rest habe ich verschleudert.«

»Ich sehe mich nicht als Piratenkapitän.«

»Wenn du schon ein Seeräuber bist, dann lieber Kapitän als Schiffsjunge«, lautete die nicht unlogische Antwort. »Und zweifellos bist du der Schlaueste an Bord.«

»Wirst du mein Adjutant sein?«

Jetzt deutete Lucas Castano auf die Kajüte von Jacare Jack und entgegnete:

»Zwölf Jahre lang bin ich der seine gewesen, und ihn umzubringen wäre mir nicht viel schwerer gefallen als dich.«

»Verstehe.«

»Also überleg’s dir gut.«

Er entfernte sich, ohne dem Gespräch viel Bedeutung beimessen zu wollen und überließ Sebastian seinen unendlichen Zweifeln.

Natürlich war die Chance verlockend, Kapitän eines großartigen Schiffs zu werden, doch wußte er auch, daß sein Leben damit eine neue Wendung nahm. Stets hatte er seinen Aufenthalt auf der jacare als unvermeidliche Episode seiner Jugendzeit betrachtet, an der ihn keinerlei Schuld traf. Äußere Umstände, für die er nichts konnte, hatten ihn dazu gezwungen, sich dieser Bande Seewölfe anzuschließen, doch von heute auf morgen Schiff, Fahne und Ruhm des gefürchteten Kapitäns Jacare Jack zu »erben«, würde ihm ein unauslöschliches Mal aufdrücken. Von nun an würde es keinen Ort mehr geben, ob zu Lande oder zu Wasser, wo man ihn nicht als sicheren Kandidaten für den Galgen ansehen würde.

Er betrachtete seinen abwesenden Vater, dessen Geist in fernen Meeren segeln mochte, und es tat ihm weh, ihn bei der wichtigsten Entscheidung seines Lebens nicht um Rat fragen zu können.

Wenn er das Angebot des Schotten annahm, das war ihm völlig klar, war er dazu verurteilt, den Rest seines Lebens an Bord eines Schiffs zu verbringen. Die Jacare wäre zwar sein Königreich, doch nur ein winziges in der Unendlichkeit der Ozeane.

Seine Grenzen würden für immer von der Reling des Schiffs bestimmt und das Land – alle Länder! – würde ihm ein feindlicher Ort sein, wo er sich niemals mehr sicher fühlen würde.

Für die meisten Seeleute, so sehr sie ihre Lebensweise auch lieben mochten, bedeutete das Land einen Ort der Rückkehr, oft auch einen ersehnten Hafen, in dem man im Notfall Zuflucht fand. Doch ein Pirat mußte stets mit der Angst leben, daß ihn an keinem Ort ein freundlicher Empfang erwartete und kein Hafen ihm während eines tobenden Sturms Schutz gewährte.

Ohne zu wissen warum, mußte er plötzlich an das unbeschreibliche Vergnügen denken, das ihn jedesmal erfüllte, wenn das Schiff seines Vaters Cabo Negro passierte und er in der Ferne die kleine Celeste und das alte Haus am Fuß der Festung La Galera erblickte. Im Haus erwarteten ihn Mutter und Schwester, und am Strand seine Freunde.

Jeder Tag, an dem er die Landzunge umrundet hatte, war für ihn ein wunderbares Schauspiel, doch heute konnte er noch so viele Landzungen umsegeln, da gab es nichts, was sich auch nur im entferntesten mit seinem verlorenen Heim und seinem geliebten Strand vergleichen ließ, an dem er so oft gespielt hatte.

Kapitän eines Schiffs zu werden, über dem die schwarze Flagge flatterte, bedeutete gleichzeitig, auf die Möglichkeit zu verzichten, eines Tages ein Haus oder einen Strand wie aus seiner Kindheit zu finden und endgültig sein vergangenes Leben abzuschreiben. Kein Entschluß also, der einem Jungen im Alter Sebastians leichtfallen konnte, auch wenn er in den schwierigen Jahren an Bord viele Erfahrungen hatte sammeln können.

Doch die Versuchung war schon riesengroß.

Vor allem dann, wenn er zusah, wie der Bug der Jacare geschmeidig durch das Wasser glitt und das Schiff über dem Wasser dahinschwebte wie ein riesiger Albatros, der genau wußte, daß ihm in diesem Meer von einem Horizont zum anderen nichts Böses drohte.

Wer träumte nicht davon, ein Schiff zu besitzen, mit dem man die äußersten Regionen der Welt erreichen konnte, ohne Grenzen außer denen der eigenen Person, ohne Gesetze außer denen, die man selbst diktierte? So wog Sebastian die folgenden vierzig Stunden wie besessen das Für und Wider seiner Tage ab, die so anders verlaufen würden als bisher.

Zu guter Letzt kam er zu dem Schluß, daß er zu keiner

Entscheidung gelangen konnte, ohne nicht vorher seinen Vater um Rat gefragt zu haben, obwohl er wußte, daß dieser wie schon seit Jahren wahrscheinlich jegliche Verantwortung von sich weisen würde.

»Ein schönes Schiff«, murmelte Miguel Heredia Ximénez, nachdem er mit ungewohntem Interesse den Ausführungen seines Sohnes zugehört hatte. »Und jeder, der etwas wirklich Schönes besitzt, lebt mit der Angst, daß man es ihm entreißt. Wenn du deine Perlen an verschiedenen Orten aufbewahrst, kann sie dir niemand alle rauben, doch ein Schiff kann man nicht teilen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Schiff ist wie eine Frau: Man kann es dir nehmen.«

»Ich werde es zu verteidigen wissen.«

»Bist du bereit, dafür zu töten?«

»Ich weiß nicht.«

»Dann finde es heraus, bevor du eine Entscheidung triffst, denn du kannst sicher sein, daß eine Menge Leute sehr wohl bereit sein werden zu töten, um es dir zu rauben.« Er sah ihm in die Augen. »Glaubst du, es lohnt sich?«

»Hängt vom Toten ab.«

»Einen ehrenwerten Mann reut der Tod eines Mistkerls mehr als einen Mistkerl der Tod eines Unschuldigen.«

Diese Lehre seines Vaters blieb Sebastian am tiefsten und für alle Zeiten im Gedächtnis haften. In diesem schlichten Satz lag die Quintessenz seiner Werte und seiner Weltanschauung.

Wie die überwältigende Mehrheit der Menschen mit reinem Gewissen wog Miguel Heredia Gut und Böse ganz anders ab, als es sein Sohn jetzt tun mußte. Was ihn in erster Linie beunruhigte, war die Tatsache, daß die Kriterien, die sein Sohn für seine Entscheidung anwenden mußte, nichts mit den Moralvorstellungen zu tun hatten, die er ihm von Kindheit an einzuimpfen versucht hatte.

Es war ihm aber klar, daß er auf das Schicksal des Jungen ebenso jeglichen Einfluß verloren hatte wie auf sein eigenes. Daher beließ er es dabei, den abgenutzten Wetzstein wieder in die Hand zu nehmen, um seine passive Beschäftigung wieder aufzunehmen, und murmelte gleichzeitig:


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