Er holte seine Perlen aus mehreren sicheren Verstecken und betrachtete sie noch einmal, ohne daß ihm der Abschied leid getan hätte. Sie waren sehr schön, doch war er seit seiner frühesten Jugend daran gewöhnt, sie zu bewundern. Sie konnten noch so groß sein und die Menschen sie noch so schätzen, sie waren doch nur runde Perlmuttkugeln, von denen es in den Untiefen rund um Margarita viele Tausende gab.

Nichts im Vergleich zu einem Schiff von vierzig Metern Länge und über dreißig Kanonen.

Am gleichen Nachmittag befahl Kapitän Jack seinen Männern, auf der weiten Fläche zwischen seiner Hütte und dem Meer Platz zu nehmen, er lehnte sich mühevoll gegen die Balustrade und musterte sie alle ausgiebig, bevor er begann:

»Viele Jahre lang habe ich euch befehligt, so gut ich es verstand, und ich muß zugeben, daß ihr mir gehorcht habt, so gut ihr konntet. Es waren gute Jahre, die uns reiche Schätze gebracht haben, doch für mich sind sie jetzt vorbei, ohne daß mich feindliche Kanonen in Stücke geschossen hätten.« Er lächelte etwas bitter: »Man könnte sagen, es ist der Moder unterhalb der Wasserlinie des Rumpfs, der mich durchlöchert.«

Allgemeines Murmeln war zu hören. Die Männer blickten sich bestürzt an, mußten sie doch fürchten, ihren »Arbeitsplatz« zu verlieren, doch der Schotte bedingte sich mit erhobenen Armen Ruhe aus und fuhr etwas schelmisch blinzelnd fort.

»Ruhe! Ich werde zwar gehen, aber ihr habt bereits einen neuen Kapitän.« Er deutete auf den erwartungsvollen Sebastián Heredia und bekräftigte: »Hier ist er!«

Jetzt schlug die Bestürzung der Männer in Entsetzen, ja Ungläubigkeit um, und nach langem Tuscheln und manchen feindseligen Ausrufen trat der erste Steuermann, Zafiro Burman, einige Schritte vor, um dem Mann, der bisher sein unbestrittener Befehlshaber gewesen war, offen die Stirn zu bieten.

»Er…? Und warum gerade er?«

»Weil er der einzige ist, der mir das Schiff abkaufen kann.« Er sah ihm direkt in die Augen. »Kannst du das etwa?«

»Nein!« gab der andere zu und griff sich an den riesigen Saphir, der an einer Halskette hing. »Das weißt du doch! Aber der ist doch nur ein Milchbart…«

»Na schön…« versetzte der Schotte, als ginge ihn diese Sache überhaupt nichts an. »Ich denke, das wird sich zeigen. Auf jeden Fall hat er Perlen und du nur Läuse.« Er bedeutete Sebastián, auf die Balustrade zu kommen. »Du bist dran! Ich habe das Meinige getan.«

Der Angesprochene gehorchte und stellte sich an die Seite des Kapitäns. Wie dieser musterte er ausgiebig einige Männer, die mit der Alternative nicht gerade glücklich schienen.

Schließlich schenkte er seinem Vater, der scheinbar völlig abwesend im Schatten eines Baums saß, einen langen Blick, und nachdem er sich einige Male geräuspert hatte, fing er an:

»Tatsache ist, daß ich mit meinen Perlen das Schiff kaufen kann und ihr nicht. Doch klar ist auch, daß diese Perlen mir nicht das Recht geben, daß ihr mich als Kapitän anerkennt.« Er machte eine kurze Pause, ohne sie aus den Augen zu lassen, und fuhr mit überraschender Gelassenheit fort. »Ein Befehlshaber braucht viele Dinge: Wissen, Intelligenz, Autorität und vor allem Mumm in den Knochen, um mit demjenigen fertig zu werden, der glaubt, mehr Ansprüche auf die Kapitänskajüte zu haben.« Wieder unterbrach er seine Rede, als ob die Leute danach aufmerksamer zuhören würden, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß dies tatsächlich der Fall war, klopfte er mehrere Male mit dem Finger gegen die Brüstung: »Wenn einer von euch glaubt, daß er mehr Rechte als ich hat, die Jacare zu kommandieren, dann soll er es jetzt sagen, damit wir es austragen können. Noch sind wir alle gleich.« Sein Finger wanderte von einem zum anderen. »Wenn aber niemand vortritt, heißt das, daß ihr mich akzeptiert, und von diesem Augenblick an ist es mit der Gleichheit vorbei, und wer meine Befehle verweigert, den lasse ich aufknüpfen… Alles klar?«

Es war Lucas Castano, der ihm klugerweise zur Seite sprang und gelassen erwiderte:

»Völlig klar!«

Der Margariteno schenkte ihm ein dankbares Lächeln und beharrte im gleichen Tonfall.

»Ist jemand unter euch, der diesen Schritt machen möchte?«

Die Männer blickten sich an, darauf vertrauend, daß ein anderer vortreten würde, und als sich keiner dazu entschließen wollte, richteten sich alle Augen auf Zafiro Burman, als sollte dieser seinen Protest von vorher fortsetzen.

Doch nachdem er lange seine schwarzen Zehen angestarrt hatte, die zum Erde schaufeln getaugt hätten, schützte der erste Steuermann schließlich schulterzuckend eine Gleichgültigkeit vor, die ihm mehr als fern lag.

»Die Zeit wird es weisen…«

»Nein, Zafiro, nein!« fuhr ihm der Junge in die Parade. »Die Zeit hat da nichts zu weisen. Du selbst mußt es tun.« Er neigte sich nach vorn, als könne er ihn dadurch besser mustern. »Und zwar gleich jetzt!« sagte er mit deutlich drohendem Ton. »Akzeptierst du mich als Kapitän, oder nicht?«

Der andere schien einige Augenblicke zu überlegen, doch dann stimmte er mit einem lustlosen Kopfnicken zu.

»Einverstanden«, murmelte er. »Ich akzeptiere dich.«

»Bist du sicher?«

»Sicher.«

»Ganz sicher?«

Der Tonfall forderte eine negative Antwort geradezu heraus, als wollte man dem Gegner eine letzte Gelegenheit zum Widerruf geben, doch der Angesprochene drehte sich um und ging zu den Bäumen, während er mit rauher Stimme entgegnete:

»Ganz sicher!«

Sebastian ließ ihn gehen, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, und wandte sich dem Rest der Versammlung zu. Mit wesentlich freundlicherem Ton fuhr er fort:

»Von diesem Augenblick an bin ich Kapitän Jacare Jack, und seine Fahne gehört mir ebenso wie sein Schiff. An Bord wird sich nichts ändern, auch nicht bei der Arbeit. Und jetzt könnt ihr euch amüsieren. Morgen stechen wir in See.«

Doch am folgenden Morgen erwartete ihn eine bittere Überraschung.

Sein Vater war verschwunden, und auf seinem Strohsack fand sich nur eine ungelenk gekritzelte Nachricht: »Du brauchst mich jetzt nicht mehr. Ich kehre nach Hause zurück.«

Sebastian fand, daß diese Botschaft typisch war für seinen Vater: unverblümt und ohne Sinn, denn all die Jahre hatte der Vater den Sohn gebraucht und umgekehrt. Außerdem gab es kein Haus mehr, zu dem er zurückkehren konnte.

Er lief zur Anlegestelle, und es überraschte ihn nicht, daß eine der Schaluppen verschwunden war. Sein erster Gedanke war, die Anker zu lichten und seinem Vater in Richtung Süden zu folgen, doch bald war ihm klar, daß ihm das Schiff eigentlich erst gehörte, wenn er den Schotten wohlbehalten an der Küste des fernen Englands abgesetzt hatte.

Am gleichen Nachmittag verließen sie die Insel, um Kurs Nordost zu setzen. Für Sebastian war es der traurigste Tag seines Lebens, denn obwohl er sich damit tröstete, daß er gar nicht anders konnte, fühlte er sich in gewisser Weise schuldig, daß er es zuließ, einen kranken und erledigten Mann in sein unausweichliches Verderben ziehen zu lassen.

Was konnte der arme, früh gealterte Mann auf Margarita tun, wenn er die Insel überhaupt in seiner Nußschale erreichte?

Und wie würde er reagieren, wenn er feststellen mußte, daß er in dem Haus, in das er zurückzukehren glaubte, nichts mehr von dem vorfinden würde, was er vor Jahren zurückgelassen hatte?

Die schmerzvolle Vergangenheit, die zu vergessen er sich so oft bemüht hatte, kam Sebastián wieder ins Gedächtnis zurück, und wieder einmal mußte er sich fragen, was in all den Jahren aus seiner Mutter und seiner Schwester geworden war.

Ob sie wohl noch auf der Insel lebten?

Wahrscheinlich wohnten sie noch immer im Palast des Gesandten der verabscheuten Casa de Contratación, die schon vor geraumer Zeit einen hohen Preis auf die gesamte Besatzung des tollkühnen Schiffs ausgesetzt hatte, denn nur zu oft hatte die jacare die Casa um ihre wertvollen Waren erleichtert. Sebastián schauderte schon bei dem Gedanken, was eines Tages geschehen würde, wenn sein Vater auf den Mann traf, der ihm auf so grausame Weise seine Familie geraubt hatte, doch was würde erst passieren, wenn er auf seine Mutter traf?


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