»Ich werde tun, was ich kann«, versprach der Margariteno.

»Danke!«

Schon auf dem Rückweg drehte sie sich nach hundert Metern noch einmal um und rief ihnen fröhlich zu:

»Und sagt ihm, daß ich immer auf ihn warten werde. Immer!«

Dann verschwand sie endgültig, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sebastian blickte ihr nach, als hätte er gerade eine Fata Morgana erlebt.

Als er schließlich zurückkam, scharten sich seine Männer erwartungsvoll um ihn.

»Was wollte diese Verrückte?« fragte Lucas Castano geradezu neugierig.

Sebastian zeigte ihm den Brief:

»Wahrscheinlich ein Jahr weiterträumen.«

Als sie drei Tage später die Jacare endlich wieder zu Wasser ließen und Kurs nach Süden einschlugen, stieß der neue Kapitän einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, daß die Gefahr vorüber war, doch fragte er sich noch oft, wie es so seltsame Orte wie diese Insel geben konnte und so unschuldige Mädchen wie das mit dem Brief.

Ein steifer Nordostwind trieb sie, ohne daß sie sich groß anstrengen mußten, nach Westen. Über dem ruhigen, dunklen Meer wölbte sich ein klarer, wolkenloser Himmel. Und so gingen die Tage friedlich dahin, bis der Ausguck einen treibenden Leichnam direkt voraus meldete.

Sie betrachteten ihn, während er langsam steuerbord vorbeitrieb.

Es handelte sich um die von Fischen schon sehr angenagte Leiche eines mageren Jungen, der schon einige Tage im Wasser gelegen haben mußte. Der Zwischenfall wäre nicht unbedingt der Rede wert gewesen, wäre nicht drei Stunden später ein neuer Toter aufgetaucht. Und auf diesen folgte ein weiterer, und wieder einer, bis man von einer wahren Prozession von Leichen hätte sprechen können, die mit dem Gesicht nach unten in einem immer ruhigeren Meer dahintrieben.

Und alle waren schwarz.

Männer, Frauen und Kinder. Alle schwarz.

Einigen hatten die in der Umgebung kreisenden Haie einen Arm oder ein Bein abgerissen, und bei einem kleinen Mann schwammen die blutigen Eingeweide wie eine Familie von Quallen herum.

Selbst die rauhen Seewölfe, die an Gewalt und Tod gewöhnt waren, glaubten einem dantesken Schauspiel beizuwohnen, denn eines war klar: Die Menschen waren keines gewaltsamen Todes gestorben, sondern zweifellos unschuldige Opfer eines tragischen Schiffbruchs, der keinen verschont hatte.

Bald mußten sie jedoch feststellen, daß keine Spur eines Schiffbruchs zu entdecken war. Keine Planke, nicht einmal ein leeres Faß oder ein Segelfetzen… Nichts!

Nur Tote.

»Ein Sklavenschiff«, rief plötzlich Nick Cararrota aus.

Sebastian Heredia wandte sich dem häßlichen Malteser zu, der als bester Fechter an Bord galt und von dessen bewegter Vergangenheit man nur so viel wußte, daß er alles getan hatte, was auf dieser Welt nur verboten oder illegal sein konnte.

»Was soll das heißen, ein Sklavenschiff?« wollte er wissen.

»Daß vor uns wahrscheinlich ein Schiff fährt, das Sklaven aus Senegal geladen hat.« Der narbengesichtige Kerl spuckte in Richtung einer der Leichen aus. »Wenn die Ware krank wird, wirft man sie über Bord, noch bevor sie den Löffel abgegeben hat.«

»Warum das denn?«

»Wenn sie halbtot im Hafen ankommt, kauft sie keiner, und wenn sie an Bord stirbt, zahlt die Versicherung nicht.« Er fletschte seine schlechten Zähne wie ein hungriger Wolf. »Wenn der Kapitän die Kranken aber ins Wasser wirft, damit sie die übrige Fracht nicht anstecken, wird das als legal angesehen, und die Versicherung ersetzt die Auslagen.«

»Bist du sicher?« fragte Lucas Castano verblüfft. »Sollen wir vielleicht glauben, daß es eine Versicherung für solche Risiken gibt?«

»Natürlich! In London.«

»Und woher weißt du das?«

Der Malteser begnügte sich mit einem Schulterzucken und grinste fast belustigt, während er ironisch fortfuhr:

»Ich verstehe schließlich mein Metier «

»Bist du mal auf einem Sklavenschiff gefahren?«

»Nur ein einziges Mal«, gab Cararrota ohne jegliche Scham zu, »und ich kann dir sagen, man verdient dabei zwar Geld wie Heu, aber es ist der elendste Beruf, den ich kenne. Und ich kenne verdammt viele! Nicht um alles Geld in der Welt würde ich noch einmal auf einem dieser verfluchten Schiffe anheuern.«

Der Wind schlief ein.

Und es wurde Nacht.

Das Meer verwandelte sich in einen riesigen Spiegel, in dem bald der Mond glänzte, und es schien, als hätten sich alle Elemente verschworen, den Männern der Jacare ein immer höllischeres Spiel zu bieten.

Über die Reling gebeugt betrachtete Sebastian die halbe Nacht lang ein versteinertes Meer. Jeden Augenblick fürchtete er eine neue phosphoreszierende Masse zu sehen, denn um die Leichen wimmelten so viele winzige Fische im Wasser herum, daß es gespenstisch im Mondlicht leuchtete.

Er konnte es einfach nicht fassen, daß ein Mensch so tief sinken konnte, einen kranken Jungen lebendig ins Wasser zu werfen, um für dessen Leben ein paar Pfund von einer Versicherung einzustreichen.

»Die haben es nicht verdient zu leben«, sagte er zu sich selbst. »Die haben es wirklich nicht verdient.«

Kurz vor Sonnenaufgang war in der Ferne ein Stöhnen zu hören. Der Ausguck riß Lucas Castano aus dem Schlaf, und dieser weckte wiederum den Margariteno auf. Sebastian befahl sofort, Fackeln zu entzünden, Schaluppen ins Wasser zu lassen und nach etwaigen Schiffbrüchigen zu suchen.

Sehr schnell hatten sie ihn gefunden. Es war ein riesiger Schwarzer, der aber so erschöpft und starr war, daß er, kaum an Bord gezogen, in eine Ohnmacht fiel, aus der er erst am Vormittag erwachte.

Sein Bericht, den er in einer seltsamen Mischung aus englischen, spanischen und portugiesischen Wortfetzen stammelte, gespickt mit zahlreichen Wörtern aus irgendeinem gottverlassenen afrikanischen Land, bestätigte die Aussage des Maltesers. Das einzige, was man wirklich verstehen konnte, war, daß der Kapitän ihn wegen unaufhörlichen Durchfalls über Bord hatte werfen lassen.

Als sie wissen wollten, wie viele Leute an Bord waren, konnte er noch nicht einmal eine ungefähre Zahl nennen.

»Muita!« war alles, was er sagte. »Muita people!«

Sebastian Heredia ging zu seiner Kajüte zurück und dachte über das Gehörte nach. Schließlich steckte er seinen Kopf wieder heraus und gab einen barschen Befehl:

»Die Masten hoch und alle Segel setzen! Wir machen Jagd auf diese Hurensöhne.«

Das Sklavenschiff konnte nicht viel Vorsprung haben, doch wehte nicht die leiseste Brise, was das Segeln auch für ein so behendes Schiff wie die Jacare zum aussichtslosen Unterfangen machte. Allein von dem Augenblick, in dem man in der Ferne voraus einen Leichnam ausmachen konnte, bis zu dem Moment, da dieser sich achtern aus den Augen verlor, verging eine Ewigkeit.

Plötzlich fiel dem Margariteno eine Geschichte ein, die seine Mutter ihm erzählt hatte: das Märchen vom kleinen Jungen, der sich im Wald verirrt und Steinchen streuend den Rückweg findet.

Das Sklavenschiff hinterließ eine ähnliche Spur und verriet damit seine genaue Route, und tatsächlich entdeckte der Ausguck schließlich erfreut im Westen einen Punkt am Horizont.

Bei Anbruch der Nacht hatten sie das Schiff allerdings noch immer nicht erreicht, und als es dunkel wurde, drehte der Verfolgte unvermittelt nach Süden ab, um ihnen auszuweichen. Doch jetzt half ihnen ein rächender Vollmond, in dessen Licht sie das Sklavenschiff sehen konnten, bevor es sich backbord davonstehlen konnte.

Im Morgengrauen waren sie nur eine knappe Meile von seiner Steuerbordseite entfernt. Bald wehte ein dermaßen grauenvoller Gestank herüber, daß selbst einige der erfahrensten Seeleute, die mit Gleichmut die schlimmsten Stürme ertrugen, kurz davor waren, sich zu übergeben.

»Aber was ist denn das?« wollte Zafiro Burman wissen. »Was ist das nur für ein Gestank?«

»Der Duft der Sklavenschiffe«, entgegnete in aller Seelenruhe der Malteser. »Er hat mich monatelang verfolgt, obwohl ich mir die Kleider vom Leib gerissen, das Haar abrasiert und mich hundertmal gebadet habe. Wie ich schon sagte: die elendste Arbeit auf Erden.«


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