Larry grunzte.

»Ich habe deinen Song im Radio gehört. Ich sage den Leuten, das ist mein Sohn. Das ist Larry. Die meisten glauben es nicht.«

»Du hast ihn gehört?« Er wunderte sich, warum sie das nicht gleich erwähnt hatte, anstatt ihm mit diesen Moralpredigten zu kommen.

»Klar, er läuft dauernd im Rock-'n'-Roll-Sender, den die jungen Mädchen hören. WABC.«

»Gefällt er dir?«

»Nicht mehr oder weniger wie diese Musik überhaupt.« Sie sah ihn streng an. »Ich finde, es ist voller Andeutungen. Schlüpfrig.«

Er merkte, daß er mit den Füßen schlurfte, und zwang sich, damit aufzuhören. »Es soll nur... leidenschaftlich klingen, Mom. Weiter nichts.« Blut schoß ihm ins Gesicht. Er hatte nie gedacht, daß er in der Küche seiner Mutter sitzen und mit ihr über Leidenschaft reden würde.

»Der Ort für Leidenschaft ist das Schlafzimmer«, sagte sie knapp und beendete damit jede Diskussion über die ästhetischen Aspekte seiner Schallplatte. »Außerdem hast du etwas mit deiner Stimme gemacht. Du hörst dich an wie ein Nigger.«

»Jetzt?« fragte er amüsiert.

"»Nein, im Radio.«

»The brown sound is goin' around«, sagte Larry mit einer tiefen BillWithers-Stimme und lächelte.

»Genau so«, nickte sie. »Als ich ein Mädchen war, hielten wir Frank Sinatra für gewagt. Heute haben sie diese Disco-Musik. Disco nennen sie es. Ich nenne es Kreischen.« Sie sah ihn verdrossen an. »Wenigstens wird auf deiner Platte nicht gekreischt.«

»Ich bekomme Tantiemen«, sagte er. »Einen gewissen Prozentsatz für jede verkaufte Platte. Es beläuft sich auf...«

»Ach, hör auf«, sagte sie und brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

»Ich hab' beim Rechnen immer abgeschrieben. Hat man dich schon bezahlt, oder hast du das kleine Auto auf Kredit gekauft?«

»Sie haben mir noch nicht viel gezahlt«, sagte er und schlitterte an den Rand einer Lüge, aber nicht darüber hinaus. »Ich habe das Auto anbezahlt. Den Rest finanziere ich.«

»Günstiger Kredit«, sagte sie giftig. »So ist dein Vater pleite gegangen. Der Arzt hat gesagt Herzanfall, aber das war es nicht. Er ist angebrochenem Herzen gestorben. Ein günstiger Kredit hat deinen Vater ins Grab gebracht.«

Es war das alte Lied, und Larry ließ es einfach über sich ergehen und nickte an den richtigen Stellen. Sein Vater hatte ein Kurzwarengeschäft gehabt. Nicht weit entfernt hatte dann ein Robert-Hall-Discountladen eröffnet, und ein Jahr später war sein Vater bankrott gewesen. Er hatte den Kummer in sich reingefressen, im wahrsten Sinne des Wortes, und in drei Jahren hundertzehn Pfund zugenommen. Als Larry neun war, war sein Vater in der Imbißstube an der Ecke vor einem Teller mit einem halb aufgegessenen Hackfleischsandwich tot umgefallen. Bei der Totenwache, wo ihre Schwester versuchte, eine Frau zu trösten, die ganz und gar nicht aussah, als würde sie Trost brauchen, hatte Alice Underwood gesagt, es hätte schlimmer sein können. Er hätte, sagte sie und sah ihrer Schwester über die Schultern und ihren Schwager direkt an, am Suff sterben können.

Alice zog Larry fortan alleine groß und beherrschte sein Leben mit ihren Sprichwörtern und Vorurteilen, bis er aus dem Haus ging. Als er mit Rudy Schwartz in Rudys altem Ford wegfuhr, waren ihre Abschiedsworte gewesen, daß es auch in Kalifornien Armenhäuser gebe. Ja, Leute, das ist meine Mama.

»Willst du hierbleiben, Larry?« fragte sie leise.

Er antwortete verblüfft: »Würde es dir was ausmachen?«

»Hier ist Platz genug. Das Rollbett steht immer noch im Hinterzimmer. Ich habe Sachen dort verstaut, aber du könntest die Kartons ja wegräumen.«

»In Ordnung«, sagte er langsam. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht. Nur ein paar Wochen. Ich dachte, ich besuche alte Freunde. Mark... Galen... David... Chris... diese Typen.«

Sie stand auf, ging zum Fenster und schob es hoch.

»Du kannst bleiben, solange du willst, Larry. Ich kann mich vielleicht nicht so gut ausdrücken, aber ich freue mich, dich zu sehen. Wir haben uns nicht sehr freundlich verabschiedet. Es sind böse Worte gefallen.« Sie zeigte ihm das noch verschlossene, aber zugleich auch von schrecklicher, widerwilliger Liebe erfüllte Gesicht. »Ich bedaure diese Worte. Ich habe sie nur ausgesprochen, weil ich dich liebe. Ich wußte nie, wie ich es dir gegenüber ausdrücken sollte, deshalb habe ich es auf andere Weise gesagt.«

»Schon gut«, sagte er und sah auf den Tisch. Das Blut schoß ihm wieder ins Gesicht. Er spürte es. »Hör mal, ich zahle natürlich Kostgeld.«

»Wenn du willst. Wenn nicht, mußt du es nicht. Ich arbeite. Tausende arbeiten nicht. Du bist immer noch mein Sohn.«

Er dachte an die steife tote Katze, die halb in der Mülltonne lag, und an Dewey Deck, der lächelnd den Gästen Nachschub besorgte, und plötzlich brach er in Tränen aus. Als er seine Hände nur noch verschwommen sah, dachte er, daß das eigentlich ihre Rolle sein sollte - nichts war so gelaufen, wie er gedacht hatte, nichts. Sie hatte sich doch verändert. Er auch, aber nicht so, wie er gedacht hatte. Eine unnatürliche Umkehrung hatte stattgefunden; sie war gewachsen, und er war irgendwie kleiner geworden. Er war nicht zu ihr nach Hause gekommen, weil er irgendwohin gehen mußte. Er war gekommen, weil er Angst hatte und seine Mutter brauchte. Sie stand am offenen Fenster und sah ihn an. Die weißen Vorhänge wurden von der feuchten Brise hereingeweht und verschleierten ihr Gesicht, verdeckten es nicht ganz, verliehen ihm aber ein geisterhaftes Aussehen. Verkehrslärm drang zum Fenster herein. Sie nahm das Taschentuch aus dem Ausschnitt des Kleides, kam zum Tisch und gab es ihm in eine ausgestreckte Hand. Larry hatte etwas Hartes an sich. Sie hätte ihn taxieren können, aber wozu? Sein Vater war ein Weichling gewesen, sie wußte im Grunde ihres Herzens, daß ihn eigentlich das ins Grab gebracht hatte; Max Underwood hatte pleite gemacht, weil er Kredit gegeben, nicht weil er ihn genommen hatte. Was nun diese Harte betraf, wem mußte Larry danken? Oder die Schuld geben?

Seine Tränen konnten diese Felsformation seines Charakters ebensowenig ändern wie ein kurzer Sommerregen das Aussehen von Felsen verändern kann. Man konnte diese Härte einem guten Zweck zuführen - das wußte sie, hatte es als Mutter erfahren, die ihren Jungen allein in einer Stadt großzog, die nichts auf Mütter gab, und noch weniger auf ihre Kinder -, aber Larry hatte noch keinen gefunden. Er war genau das, was sie gesagt hatte: der alte Larry. Er würde in den Tag hineinleben, nicht nachdenken, würde Leute - sich eingeschlossen - in verzwickte Lagen bringen, und wenn es zu schlimm würde, würde er auf seine Härte zurückgreifen und sich aus dem Schlamassel befreien. Und die anderen? Die würde er zurücklassen, damit sie selbst schwimmen oder untergehen konnten. Fels war hart, und diese Härte prägte seinen Charakter, aber er setzte sie immer noch destruktiv ein. Sie sah es seinem Gesicht an und seiner Haltung, sogar der Art, wie er mit dem Sargnagel wippte und kleine Rauchkringel in die Luft steigen ließ. Er hatte diese Härte in sich noch nicht bearbeitet und geschliffen, so daß er Menschen damit weh tun konnte, und das war immerhin etwas, aber wenn er sie brauchte, berief er sich trotzdem darauf, so wie ein Kind - er benützte sie als Keule, um sich den Weg aus Fallen freizuschlagen, die er sich selbst gestellt hatte. Früher hatte sie sich gesagt, Larry würde sich ändern. Sie hatte; er würde.

Aber vor ihr saß kein kleiner Junge, sondern ein erwachsener Mann, und sie hegte die Befürchtung, eines Tages könnte seine Chance, sich zu verändern - eine grundlegende, fundamentale Veränderung, die ihr Pfarrer eine Veränderung der Seele, nicht des Herzens, zu nennen pflegte -, vertan sein.

Larry hatte etwas in sich, das einen mit bitteren Schauern erfüllte, als würde man Kreide auf einer Tafel kreischen hören. Tief in seinem Inneren war nur Larry und sah heraus. Er duldete nur sich selbst in seinem Herzen. Aber sie hatte ihn trotzdem lieb.


Перейти на страницу:
Изменить размер шрифта: