Reiß dich zusammen, so kenne ich dich ja gar nicht!“ Der Massai steht dicht neben uns und sagt kein Wort. Nur durch die Umrisse seines langen Körpers und seinen Geruch, der auf mich erotisch wirkt, spüre ich, daß er noch da ist.
Am Rande des Busbahnhofs gibt es kleine Geschäfte, die eher wie Baracken aussehen und al e dasselbe anbieten: Tee, Süßigkeiten, Gemüse, Früchte und Fleisch, das an Haken hängt. Vor den nur schwach mit Petroleumlampen beleuchteten Buden stehen Menschen in zerlumpten Kleidern. Als Weiße fallen wir hier sehr auf.
„Laß uns zurück nach Mombasa gehen und ein Taxi suchen. Der Massai versteht doch nicht, was wir wollen, und ich traue ihm nicht. Außerdem glaube ich, daß du von ihm richtig verhext bist“, sagt Marco. Mir allerdings erscheint es wie eine Fügung, daß ausgerechnet er unter all den Schwarzen auf uns zugekommen ist.
Als kurz darauf ein Bus hält, sagt der Massai „Come, come!“, schwingt sich hinein und reserviert uns zwei Plätze. Wird er wieder aussteigen oder mitfahren, frage ich mich. Zu meiner Beruhigung setzt er sich auf die andere Seite des Durchgangs direkt hinter Marco. Der Bus fährt auf einer Landstraße, die völlig im Dunkeln liegt. Ab und zu sieht man zwischen den Palmen und Sträuchern ein Feuer und ahnt die Anwesenheit von Menschen. Die Nacht verwandelt alles, wir haben völlig die Orientierung verloren. Marco erscheint die Strecke viel zu lang, so daß er mehrmals den Versuch macht auszusteigen. Nur durch mein gutes Zureden und nach ein paar Worten des Massai sieht er ein, daß wir dem Fremden vertrauen müssen. Ich habe keine Angst, im Gegenteil, ich möchte ewig so weiterfahren. Die Anwesenheit meines Freundes beginnt mich zu stören. Alles sieht er negativ und obendrein versperrt er mir die Sicht! Krampfhaft überlege ich: „Was ist, wenn wir am Hotel eintreffen?“
Nach gut einer Stunde ist der gefürchtete Moment gekommen. Der Bus hält, und Marco steigt erleichtert aus, nachdem er sich bedankt hat. Ich schaue noch einmal den Massai an, bringe kein Wort hervor und stürze aus dem Bus. Er fährt weiter, irgendwohin, viel eicht sogar nach Tansania.
Von diesem Moment an will sich bei mir keine Ferienstimmung mehr einstellen.
Ich denke viel über mich, Marco und mein Geschäft nach. Seit bald fünf Jahren betreibe ich in Biel eine exklusive Secondhand-Boutique mit einer Abteilung für Brautkleider. Nach anfänglichen Schwierigkeiten läuft das Geschäft bestens, und ich beschäftige mittlerweile drei Schneiderinnen. Mit siebenundzwanzig Jahren habe ich es geschafft, auf einen ansehnlichen Lebensstandard zu kommen.
Marco lernte ich kennen, als es beim Einrichten meiner Boutique Schreinerarbeiten zu erledigen gab. Er war höflich und lustig, und da ich in Biel neu zugezogen war und niemanden kannte, nahm ich eines Tages seine Einladung zum Essen an. Langsam entwickelte sich unsere Freundschaft, und nach einem halben Jahr zogen wir zusammen. Wir gelten in Biel als „Traumpaar“, haben viele Freunde, und al e warten auf unseren Hochzeitstermin. Doch ich gehe völlig in der Aufgabe als Geschäftsfrau auf und bin auf der Suche nach einem zweiten Laden in Bern. Mir bleibt kaum Zeit für Gedanken an Hochzeit oder Kinder. Marco ist von meinen Plänen allerdings nicht sehr angetan, sicher auch, weil ich schon jetzt wesentlich mehr verdiene als er. Das macht ihm zu schaffen und hat in letzter Zeit zu Auseinandersetzungen geführt.
Und nun diese für mich völlig neue Erfahrung! Ich versuche immer noch zu begreifen, was da in mir vorgeht. Mit meinen Gefühlen bin ich weit weg von Marco und merke, daß ich ihn kaum wahrnehme. Dieser Massai hat sich in meinem Gehirn festgesetzt. Ich kann nichts essen. Im Hotel haben wir die besten Buffets, aber ich bringe nichts mehr hinunter. In meinem Bauch haben sich anscheinend die Gedärme verknotet. Den ganzen Tag spähe ich zum Strand oder spaziere an ihm entlang, in der Hoffnung, ihn zu erblicken. Ab und zu sehe ich einige Massai, aber al e sind kleiner und weit entfernt von seiner Schönheit. Marco läßt mich gewähren, es bleibt ihm ja nichts anderes übrig. Er freut sich auf die Heimreise, weil er fest davon überzeugt ist, daß sich dann alles normalisiert. Doch dieses Land hat mein Leben aus den Fugen gerissen, und es wird nichts mehr so sein wie bisher.
Marco beschließt, eine Safari ins Massai-Mara zu unternehmen. Mir behagt diese Idee nicht besonders, denn unter diesen Umständen habe ich keine Chance, den Massai wiederzufinden. Aber mit einer Zweitagesreise bin ich einverstanden.
Die Safari ist anstrengend, weil es mit den Bussen weit ins Landesinnere geht. Wir fahren bereits mehrere Stunden, und Marco geht alles zu langsam. „Wegen der paar Elefanten und Löwen hätten wir wirklich nicht diese Strapaze auf uns nehmen müssen, die können wir auch bei uns im Zoo sehen.“ Mir aber gefäl t die Fahrt. Bald erreichen wir die ersten Massai-Dörfer. Der Bus hält, und der Fahrer fragt, ob wir Lust hätten, die Hütten und deren Bewohner zu besichtigen. „Klar“, sage ich, und die anderen Safariteilnehmer schauen mich kritisch an. Der Fahrer handelt einen Preis aus. In weißen Turnschuhen stapfen wir durch lehmigen Morast, darauf bedacht, nicht auf die Kuhfladen zu treten, die überall herumliegen. Kaum sind wir bei den Hütten, den Manyattas, stürzen sich die Frauen mit ihrer Kinderschar auf uns, zerren an unseren Kleidern und wollen praktisch al es, was wir an uns tragen, gegen Speere, Stoffe oder Schmuck eintauschen.
Inzwischen sind die Männer in die Hütten gelockt worden. Ich kann mich nicht überwinden, in diesem Morast noch einen einzigen Schritt zu machen. So reiße ich mich von den rabiaten Frauen los und stürme zurück zum Safaribus, gefolgt von Hunderten von Fliegen. Auch die anderen Gäste eilen zum Bus und rufen:
„Losfahren!“ Der Chauffeur lächelt und meint: „Jetzt seid ihr hoffentlich gewarnt vor diesem Stamm, den letzten unzivilisierten Menschen in Kenia, mit denen auch die Regierung ihre Schwierigkeiten hat.“
Im Bus stinkt es fürchterlich, und die Fliegen sind eine Plage, während Marco lacht und meint: „So, jetzt weißt du wenigstens, woher dein Schönling kommt und wie es bei denen ausschaut.“ An meinen Massai habe ich komischerweise in diesen Minuten überhaupt nicht gedacht.
Schweigend fahren wir weiter, vorbei an großen Elefantenherden. Nachmittags erreichen wir ein Touristenhotel. Es ist fast unwirklich, in dieser Halbwüste in einem luxuriösen Hotel zu übernachten. Als erstes beziehen wir unsere Zimmer und gehen unter die Dusche. Das Gesicht, die Haare, al es klebt. Dann gibt es ein üppiges Abendessen, und selbst ich verspüre nach fast fünf Tagen Hungerns so etwas wie Appetit. Am nächsten Morgen stehen wir sehr früh zur Löwenbesichtigung auf und tatsächlich finden wir drei noch schlafende Tiere. Dann treten wir den langen Heimweg an. Je näher wir Mombasa kommen, desto mehr überkommt mich ein merkwürdiges Glücksgefühl. Für mich steht fest: Noch knapp eine Woche sind wir hier, und ich muß meinen Massai wiederfinden.
Abends findet im Hotel ein Massai-Tanz mit anschließendem Schmuckverkauf statt, und ich bin voller Hoffnung, ihn hier wiederzusehen. Wir sitzen in der ersten Reihe, als die Krieger hereinkommen. Es sind etwa zwanzig Männer, kleine, große, hübsche, häßliche, aber mein Massai ist nicht dabei. Ich bin enttäuscht. Trotzdem gefällt mir ihre Darbietung, und wieder rieche ich diese Ausdünstung, die sich von der anderer Afrikaner stark unterscheidet.
In der Nähe des Hotels sol es ein Freiluft-Dancing, die „Bush-Baby-Disco“, geben, wo auch Einheimische hingehen können. So sage ich: „Marco, komm, wir suchen dieses Tanzlokal.“ Er wil nicht so recht, da natürlich die Hotel eitung auf die Gefahren hingewiesen hat, aber ich setze mich durch. Nach kurzer Wanderung entlang der dunklen Straße erspähen wir Licht und hören die ersten Töne von Rockmusik. Wir gehen hinein, und mir gefällt es sofort. Endlich nicht mehr diese kahlen, klimatisierten Hotel-Discos, sondern eine Tanzfläche unter freiem Himmel mit einigen Bars zwischen Palmen. Überall hocken Touristen mit Einheimischen an den Theken. Hier geht es locker zu. Wir setzen uns an einen Tisch. Marco bestellt Bier und ich eine Cola. Dann tanze ich allein, da Marco nicht viel vom Tanzen hält.