Er weigerte sich, Waterwegs Vornamen auszusprechen. Ein Vorname setzt ein gewisses Maß an Intimität voraus, ein gewisses Maß an Sympathie. Er hegte keine Sympathie für Waterweg, Verwandtschaft hin oder her.
»Ja, wie er sich wundern wird!«, fuhr Jonathan fort. »Der ganze Aufwand umsonst! Die Reise, die Pässe, die Namen – alles umsonst! Er hat nur einen Teddybären mit einer roten Schleife aus Hamburg gerettet. Die andere Person, die er retten wollte, ist ihm auf dem letzten Stück des Weges verloren gegangen. Sie wird irgendwo zwischen Isabela und Baltra ertrinken, egal unter welchem Namen.«
Er schloss die Augen. Eigentlich war alles gut, wie es war. Mit eisigen Fingern griff er in seine Hosentasche und zog die Mütze hervor, die alte Schiebermütze seines Vaters. Er hielt sie ganz fest.
»Ich komme«, flüsterte er. »Wartet nur noch ein Weilchen, dann bin ich da.«
Er hatte nie an viel geglaubt. Seine Eltern waren keine Kirchgänger gewesen. Doch jetzt strengte er sich an zu glauben, er glaubte so fest, dass es wehtat: Er würde sie wiedersehen. Sie alle. Sie waren irgendwo, nur noch getrennt von ihm durch eine papierdünne Wand aus wenigen Minuten, wenigen Grad Celsius. »Ich bringe die Mütze mit«, flüsterte er. »Papa, deine alte! Und das Geißblatt wird blühen, wie damals in Hamburg. Nur schade, Mama, dass du jetzt die Inseln nie zu sehen bekommst, von denen du immer geträumt hast. Ich weiß noch, wie du uns von ihnen vorgelesen hast, von den Seelöwen und den Leguanen, die so zahm sind, dass man sie streicheln kann … Ich weiß noch … jedes Wort …«
Dann zog das Meer ihn hinab.
Ein Kind? Er war kein Kind.
Wie konnten sie so etwas sagen? Er war dreizehn. Fast vierzehn. Und er konnte mit seinem Mausergewehr umgehen, seit er zehn war. Wenn seine Brüder alt genug waren, Sandro und Felipe, dann war er es auch. »In Europa ist Krieg«, sagte José ernst. »Im Krieg kann man es sich nicht leisten, in meinem Alter ein Kind zu sein.«
Sein Vater lachte und Sandro und Felipe stimmten mit ein. Es war ein gemütliches, dröhnendes Lachen, das sie lachten, aber in diesem Moment hasste José sie dafür.
»Seht ihn euch an, meinen erwachsenen Sohn!«, rief Josés Vater. »Seht ihn euch nur gut an! Läuft von der Farm zu Hause weg und lässt sich vom alten Silvio auf seiner Jacht mitnehmen, um ein Held zu werden!«
»Und in Europa ist Krieg, sagt er«, meinte Sandro. »Unser weiser kleiner José.«
Ehe José sich wehren konnte, hatte Felipe ihn hochgehoben. Felipe war stark wie zwei Pferde. Er schob ein paar Bierdosen beiseite, grinste den beiden Amerikanern am Tisch zu und stellte José mitten auf den Tisch.
»Schau dich nur gut um, tapferer kleiner Bruder«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Schau ihn dir an, den Krieg!«
Die Welt, in die José von dem Tisch aus hineinsah, war blau. Blau lag der Pazifik da, blau wölbte sich der Himmel darüber, und in weiter Ferne lagen als blaue Umrisse andere Inseln – die größte davon Isabela. Irgendwo dort stand seine Mutter, vermutlich an einem blau gestrichenen Zaun, und machte sich Sorgen um ihren jüngsten Sohn. Nur der Hafen von Baltra, keinen Gewehrschuss weit von dem Tisch entfernt, war nicht blau. Im Hafen legte eben ein graues Schiff der amerikanischen Marine ab, um eine Spur ins Meeresblau zu malen. José drehte sich um. Hinter ihm begann der neue Flugplatz der Amerikaner zu wachsen. Daneben lagen die Baracken der Arbeiter. Auch sie waren grau.
Ein Schwarm schwarzer, rotbrüstiger Fregattvögel schoss durch den Himmel, schlug ins Meer ein wie Granaten und tauchte sofort wieder auf, synchron, in einem perfekten Luft-und-Wasser-Ballett. Einige von ihnen trugen jetzt silbrige Fische im Schnabel. Von irgendwoher drang Musik aus einem amerikanischen Transistorradio durch den warmen Nachmittag.
»Ich sehe den Krieg«, sagte José. »Baltra wäre leer ohne den Krieg. Nichts und niemand wäre hier außer den Leguanen und den Fregattvögeln und ein paar einsamen Büschen. Seid ihr so blind?«
Er kletterte vom Tisch, setzte sich auf einen freien Klappstuhl und verschränkte die Arme.
»Nein, das hier nicht der Krieg«, sagte einer der Amerikaner. Sein Spanisch war holprig, aber er gab sich Mühe. »Wir bauen Flugplatz to control Panamakanal, du weißt. Nicht, weil hier ist Krieg. Hier ihr habt noch peace und paradise.«
»Du weißt«, sagte der andere. »Wir sind hier for control, dass keine deutschen U-Boote kommen durch den Kanal, zu angreifen Amerika von diese Seite. Und auch Japaner, die mit den Deutschen Freunde sind. Ohne Kanal the way is zu weit, der Weg, außen herum um Kontinent, you see, Kanal ist wichtig for Abkürzung, schnell hier die U-Boote, schnell angreifen, schnell Katastrophe.«
»Aber hier«, sagte der Erste wieder, hier is nicht Krieg. Das Meer so blue, Himmel ganz hoch, und die Vögel, tausend bunte Vögel, alle frei, schau, dort!«
Einer der Fregattvögel war in der Nähe gelandet und füllte seinen signalroten Kehlsack mit Luft, bis er einer roten Boje glich, einem Ballon aus lauter Stolz. Dann warf er den Kopf zurück, um ein lautes Klappern aus seiner Kehle zu holen. Er versuchte einem Weibchen zu imponieren. Aber es war kein Weibchen in der Nähe. José sah zu, wie der Vogel seinen Kehlsack wieder schrumpfen ließ und in die Luft hinaufschoss, davon, davon.
»Ja«, sagte er, »die Vögel sind frei.« Er sprach jetzt englisch. Sie sollten nicht denken, er könnte ihre Sprache nicht. »Aber wir, wir sind gefesselt an unsere Inseln. Nehmen Sie mich mit! Wenigstens ein einziges Mal. Auf einen einzigen Flug!«
»No«, sagte der andere Amerikaner. »Wir fliegen nicht for fun, nicht für Spaß. Wir fliegen für control, zu sehen, ob U-Boote in der Nähe von Kanal.«
Josés Vater legte seine große, grobe Hand auf Josés schmale, schlanke Hand. »Mein jüngster Sohn bleibt schön auf der Erde«, sagte er. »Morgen früh fährst du mit Silvio zurück nach Isabela. Er hat mir versprochen, dich mit zurückzunehmen, nach Hause. Ich bin mir sicher, Mama Carmelita ist krank vor Sorge.«
»Sie braucht Hilfe auf den Feldern, unsere Mutter«, sagte Sandro. »Sie braucht einen Mann auf der Farm.«
»Ach was«, sagte José. »Und warum geht ihr nicht zurück?«
»Wir verdienen eine Menge Geld hier, Kleiner«, meinte Felipe. »Am Ende wird es genug sein für ein Fischerboot.«
José hob eine Bierdose hoch und schüttelte sie. Sie war leer. »So«, sagte er. »So, so. Auf diese Weise verdient ihr das Geld für ein Fischerboot. Vergesst es. Ich geh nicht zurück.«
»Oh, hört auf zu streiten«, sagte ihr Vater. »Wenn ich dir sage, du gehst zurück, José, dann gehst du zurück, so einfach ist das.«
Aber so einfach war es nicht. José stand auf.
Irgendwo da draußen kämpften Männer für die Freiheit, Seite an Seite. Irgendwo da draußen gab es Helden. Helden, die ihre Maschinen hoch in den Himmel lenkten, die mit den Fregattvögeln um die Wette flogen, höher und höher hinauf ins trügerisch friedliche Blau … nicht nur solche, die eine Schiffspassage kontrollierten. Solche, die weiter flogen. Die Leben retteten, die für Gerechtigkeit starben. Die gegen die Deutschen kämpften, die den Krieg angefangen hatten und ein Weltreich errichten wollten, die wahnsinnigen Deutschen.
»Wartet nur«, sagte er leise. »Irgendwie komme ich in die Luft. Irgendwann werde ich selbst fliegen. Vielleicht bis nach Europa. Ich kann schießen. Ich habe keine Angst. Ich knalle sie alle ab, die deutschen Mörder. Und wenn ich zurückkomme, sprechen wir uns wieder.«
Dann ließ er sie sitzen, an ihrem Tisch, mit ihrem Bier, und lief davon.
Der Hafen kam ihm still vor und beinahe verlassen, verglichen mit der Barackensiedlung der Amerikaner. Im niedrigen Gestrüpp hinter dem neuen Kai summte nur die Hitze. José sah sich um. Es war nicht nur still hier. Es war zu still. Keine Leguane lagen in der Sonne, keine Schildkröten waren zwischen den Sträuchern unterwegs. Nur die Fregattvögel hoch in der Luft hielten die Stellung. Früher, dachte José, musste es hier Tiere gegeben haben, so wie auf den anderen Inseln. Früher, als noch niemand einen Flugplatz baute. Vor dem Krieg.