Paulo Coelho
Elf Minuten
Und diese, eine Frau, war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als sie vernahm, daß er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salböl…
Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt, denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es.
Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?
Simon antwortete und sprach: »Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.«
Er aber sprach zu ihm: »Du hast recht geurteilt.«
Und dann wandte er sich zu der Frau und sprach zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben, diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben, diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.
Deshalb sage ich zu dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.«
Weil ich die erste und die letzte bin
Bin ich verehrt und verachtet
Bin ich Hure und Heilige
Bin ich Gattin und Jungfrau
Bin ich Mutter und Tochter
Bin ich die Arme meiner Mutter
Bin ich unfruchtbar, und die Zahl meiner Kinder ist groß
Bin ich gut vermählt und ledig
Bin ich die gebiert und niemals geboren hat
Bin ich die Trösterin der Wehen
Bin ich die Gattin und der Gatte und es war mein Mann, der mich geschaffen hat
Ich bin die Mutter meines Vaters
Bin die Schwester meines Mannes und er ist mein abgelehnter Sohn
Achtet mich immer
Denn ich bin die Anstoß Erregende und die Prächtige
Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.
Moment mal. »Es war einmal« ist die beste Art, ein Märchen für Kinder zu beginnen, während »Prostituierte« nach etwas klingt, was für Erwachsene gedacht ist. Darf man ein Buch mit einem so offensichtlichen Widerspruch beginnen? Im Leben stehen wir schließlich auch dauernd mit einem Fuß im Märchen und mit dem anderen im Abgrund, und darum wollen wir es bei diesem Anfang belassen: Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.
Wie alle Prostituierten war auch Maria einmal ein unschuldiges Mädchen gewesen und hatte während ihrer Jugendzeit davon geträumt, dem Mann ihres Lebens zu begegnen (reich, schön, intelligent), ihn zu heiraten (im Brautkleid), mit ihm zwei (dereinst berühmte) Kinder zu haben und in einem schönen Haus (mit Blick aufs Meer) zu wohnen. Marias Vater war Bauer, ihre Mutter Schneiderin, in ihrer Heimatstadt im Nordosten Brasiliens gab es nur ein Kino, einen Nachtclub, eine Bankfiliale; deshalb wartete Maria immer darauf, daß eines Tages ein Märchenprinz auftauchen, ihr Herz im Sturm nehmen und mit ihr aufbrechen würde, um die Welt zu erobern.
Solange aber der Märchenprinz nicht kam, konnte sie nur träumen. Mit elf verliebte sie sich zum ersten Mal. Auf dem Schulweg. Am ersten Schultag. In einen Jungen aus der Nachbarschaft. Die beiden sprachen nie ein Wort miteinander, aber Maria merkte bald, daß die schönsten Augenblicke des Tages für sie die auf der staubigen Straße waren, wenn die Sonne im Zenit stand und sie durstig und müde versuchte, mit dem Jungen Schritt zu halten.
So ging es mehrere Monate lang: Maria, die im Grunde nicht gern lernte und in ihrer Freizeit nur vor dem Fernseher saß, konnte den nächsten Schultag jeweils kaum erwarten; im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen fand sie die Wochenenden todlangweilig. Da die Zeit einem jungen Menschen viel länger vorkommt als einem Erwachsenen, erschien es ihr unerträglich, daß jeder Tag ihr nur zehn Minuten mit ihrem Liebsten bescherte und dafür unendlich viele Stunden, in denen sie an den Jungen nur denken und sich ausmalen konnte, wie schön es wäre, mit ihm zu reden.
Und dann geschah es. Eines Morgens sprach der Junge sie an und bat sie, ihm einen Bleistift zu leihen. Maria antwortete nicht, blickte ihn abweisend an und ging schnell weiter. In Wirklichkeit war sie vor Angst wie versteinert gewesen, als sie ihn auf sich zukommen sah. Sie fürchtete, er könnte merken, wie verliebt sie in ihn war, was sie sich alles von ihm erhoffte, wie sehr sie davon träumte, mit ihm Hand in Hand am Schultor vorbei- und die Straße bis zum Ende zu gehen, bis in eine große Stadt, wo es angeblich Märchenprinzen gab und Künstler, viele Autos und Kinos und alle möglichen tollen Dinge, die man unternehmen konnte.
Tagsüber im Unterricht konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie machte sich Vorwürfe, aber zugleich war sie erleichtert, weil sie dem Jungen auch aufgefallen war und dieser den Bleistift offensichtlich nur als Vorwand benutzt hatte, um mit ihr ein Gespräch zu beginnen, denn als er zu ihr gekommen war, hatte sie einen Kugelschreiber in seiner Tasche bemerkt. Sie wartete darauf, daß er sie erneut ansprechen würde, und in der Nacht und all die folgenden Nächte – malte sie sich die Antworten aus, die sie ihm beim nächsten Mal geben würde, und was die richtige Art wäre, eine Liebesbeziehung zu beginnen, die nie enden würde.
Aber es gab kein nächstes Mal. Obwohl sie weiterhin zusammen zur Schule gingen – Maria mal ein paar Schritte vor ihm mit einem Bleistift in der Hand, mal hinter ihm, um ihn zärtlich anzusehen –, sprach er sie bis zum Ende des Schuljahres nie wieder an.
In den großen, endlosen Ferien wachte sie eines Morgens mit Blut an den Beinen auf und dachte, sie müßte sterben. Sie beschloß, dem Jungen einen Brief zu schreiben, in dem sie ihm ihre Liebe gestand; danach würde sie in den sertão, in die Wildnis, gehen und von einem dieser fürchterlichen Tiere nämlich dem Werwolf oder dem Maultier ohne Kopf –, von denen die Bauern der Gegend immer munkelten, getötet werden. Wenigstens wußten ihre Eltern dann nicht, daß sie tot war, und konnten hoffen, daß ihr Kind von einer reichen, kinderlosen Familie geraubt worden und eines Tages – reich und erfolgreich – zurückkehren würde; Marias große Liebe dagegen würde sich ein Leben lang grämen, sie nicht wieder angesprochen zu haben.
Maria kam nicht dazu, den Brief zu schreiben, denn ihre Mutter trat ins Zimmer, sah die roten Bettücher und sagte lächelnd:
»Jetzt bist du ein junges Mädchen, Töchterchen.« Maria wollte wissen, was das Blut damit zu tun habe, daß sie jetzt ein junges Mädchen war, doch ihre Mutter konnte es ihr nicht richtig erklären. Sie sagte nur, es sei normal und von nun an müsse sie an vier oder fünf Tagen im Monat eine Art Puppenkissen zwischen den Beinen tragen. Geht das bei den Männern auch so? fragte Maria, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie das bei ihnen funktionieren sollte. Aber sie erhielt die Auskunft, daß Männer keine monatlichen Blutungen hätten. Männern passiere das nicht, nur Frauen. Zuerst haderte Maria mit dem lieben Gott wegen dieser Ungerechtigkeit, doch mit der Zeit fand sie sich mit der Menstruation ab. Mit der Abwesenheit des Jungen konnte sie sich jedoch nicht abfinden, und sie machte sich ständig Vorwürfe, weil sie vor dem weggelaufen war, was sie sich am meisten gewünscht hatte. Einen Tag vor Schulbeginn ging sie in die einzige Kirche des Ortes und gelobte vor dem Bildnis des heiligen Antonius, daß sie die Initiative ergreifen und den Jungen ansprechen würde. Gott sei Dank waren die Ferien endlich vorbei. Am nächsten Tag machte sie sich so hübsch wie möglich. Sie zog das neue Kleid an, das die Mutter für sie genäht hatte, und trat vor das Haus. Aber der Junge kam und kam nicht. Eine bange Woche verging, bis sie von ihren Kameraden erfuhr, er sei in eine andere Stadt gezogen.
»Er ist weit weggezogen«, sagte einer.
Da lernte Maria, daß gewisse Dinge nicht nachholbar, sondern auf ewig verloren sein können. Sie lernte auch, daß es einen Ort namens ›Weit weg‹ gab, daß die Welt groß und ihr Städtchen klein war und daß die interessanten Menschen am Ende immer weggingen. Sie wäre selbst gern weggegangen, aber sie war noch sehr jung; dennoch beschloß sie, daß sie eines Tages dem Jungen folgen und den vertrauten staubigen Straßen für immer den Rücken kehren würde.
An den neun folgenden Freitagen ging sie zur Kommunion und betete zur Jungfrau Maria, sie bald hier herauszuholen.
Vergebens versuchte sie, eine Spur des Jungen zu finden, aber niemand wußte, wohin er mit seinen Eltern gezogen war. Und Maria kam zu dem Schluß, daß die Welt zu groß, die Liebe etwas Gefährliches und die Jungfrau Maria dort im Himmel zu weit weg wohnte, um die Bitten der Kinder zu hören.
Die Jahre vergingen, Maria besuchte weiter die Schule, lernte Mathematik und Erdkunde, schaute sich regelmäßig die Serien im Fernsehen an, las in der Schule unter dem Pult die ersten erotischen Zeitschriften. Sie begann auch ein Tagebuch, dem sie ihr, wie sie fand, uninteressantes Leben anvertraute und ihre Sehnsucht nach der weiten Welt, von der ihnen der Erdkundelehrer erzählte – den Meeren, den schneebedeckten Alpen, aber auch von den Männern mit Turban und eleganten, schmuckbehangenen Frauen. Aber da das Leben nicht nur aus unerfüllbaren Wünschen bestehen kann – vor allem, wenn die Mutter Schneiderin ist und der Vater auf dem Feld arbeitet und fast nie zu Hause ist –, begriff Maria bald, daß sie ihrer Umgebung mehr Beachtung schenken sollte. Sie lernte eifrig, um es im Leben zu etwas zu bringen, während sie zugleich jemanden suchte, mit dem sie ihre Sehnsucht nach Abenteuern teilen konnte.
Mit fünfzehn verliebte sie sich in einen Jungen, den sie während einer Karwochenprozession kennengelernt hatte. Sie machte denselben Fehler nicht noch einmal: Die beiden redeten miteinander, freundeten sich an, gingen zusammen ins Kino und auf Partys. Erneut stellte sie fest, daß die Liebe mehr mit der Abwesenheit als mit der Gegenwart der geliebten Person zu tun hatte: Wenn sie den Jungen nicht sah, vermißte sie ihn, und sie verbrachte Stunden damit, sich auszumalen, was sie beim nächsten Wiedersehen sagen würde, erinnerte sich an jeden Augenblick, den sie zusammen verbracht hatten, und grübelte, was sie richtig oder falsch gemacht hatte. Sie gefiel sich in der Rolle des schon etwas erfahreneren Mädchens, das schon eine Liebe hatte gehen lassen und es bitter bereute. Jetzt war sie wild entschlossen, um den jungen Mann zu kämpfen: sie wollte heiraten, Kinder haben, in dem Haus am Meer wohnen. Ihre Mutter, mit der sie sich besprach, fand sie dafür noch zu jung.