Ralf Hart hörte auf, sich zu quälen, und konzentrierte sich wieder auf das Spiel, das sie beide soeben erfunden hatten. Die Frau, die vor ihm saß, hatte recht: Der Wein, die Zigarette, ihre Gegenwart allein genügte nicht; es bedurfte einer anderen Art von Trunkenheit, einer anderen Art von Feuer.
Sie trug ein Trägerkleid, er konnte ihre Haut sehen, ihre halb entblößte Brust, die eher bräunlich als weiß schimmerte. Er begehrte sie. Er begehrte sie sehr.
Maria sah die Veränderung in Ralfs Augen. Sich begehrt zu fühlen erregte sie mehr als alles andere. Es hatte nichts mit dem Standardablauf zu tun – ich möchte mit dir Liebe machen, will heiraten, will, daß du einen Orgasmus hast, will ein Kind haben, will Verbindlichkeit. Nein, das Begehren war ein freies Gefühl, ein im Raum schwebender Wunsch, der das Leben erfüllte – und das reichte; dieser Wunsch trieb alles voran, brachte Berge zum Einstürzen… und ließ ihr Geschlecht feucht werden.
Der Wunsch hatte am Anfang von allem gestanden – ihr Land zu verlassen, eine neue Welt zu entdecken, Französisch zu lernen, ihre Vorurteile zu überwinden, von einer Farm zu träumen, bedingungslos zu lieben, sich allein wegen des Blickes eines Mannes als Frau zu fühlen. Mit kalkulierter Langsamkeit streifte sie den anderen Träger herab, und das Kleid glitt an ihrem Körper herunter. Dann hakte sie den Büstenhalter auf. Sie blieb so, mit nacktem Oberkörper sitzen, fragte sich, ob er sich auf sie stürzen, sie berühren, Liebesschwüre stammeln würde oder ob er sensibel genug war, um das eigene Begehren als die wahre sexuelle Lust zu empfinden.
Alles um sie herum versank, es gab keine Geräusche mehr, der Kamin, die Bilder, die Bücher verschwammen. An ihre Stelle trat eine Art Trance, in der nur das obskure Objekt der Begierde existierte und nichts sonst von Bedeutung war.
Der Mann rührte sich nicht. Anfangs spürte sie eine gewisse Schüchternheit in seinen Augen, aber die hielt nicht an. Er betrachtete sie, und in Gedanken liebkoste er sie mit der Zunge, machten sie Liebe, schwitzten sie, umarmten sie sich, vermischten Zärtlichkeit mit Heftigkeit, schrien sie und stöhnten sie gemeinsam.
In Wirklichkeit dagegen sagten sie nichts, keiner von beiden rührte sich, und das erregte Maria noch mehr, weil auch sie frei war zu denken, was sie wollte. Sie stellte sich vor, wie sie ihn bat, sie sanft zu berühren, spreizte die Beine, masturbierte vor ihm, stieß liebevolle und vulgäre Worte hervor, als seien sie ein und dasselbe, hatte mehrere Orgasmen, weckte die Nachbarn auf, weckte die ganze Welt auf mit ihren Schreien. Da war ihr Mann, der ihr Lust und Freude schenkte, mit dem sie sie selbst sein konnte, mit dem sie über ihre sexuellen Probleme reden und dem sie auch sagen konnte, wie gern sie für den Rest der Nacht, der Woche, den Rest ihres Lebens bei ihm bleiben würde.
Ihre Gesichter waren schweißnaß. Es war der Kamin, sagte einer im Geiste dem andern. Aber Mann wie Frau waren an ihre Grenzen gelangt, indem sie ihre ganze Vorstellungskraft ausgeschöpft und miteinander eine Ewigkeit schöner Augenblicke erlebt hatten. Sie mußten aufhören; ein Schritt weiter, und die Magie des Augenblicks würde von der Wirklichkeit zerstört werden.
Ganz langsam – denn das Ende ist immer schwieriger als der Anfang – hakte sie den Büstenhalter wieder zu, verhüllte ihre Brüste. Sie waren zurück in der Wirklichkeit. Die Dinge ringsum tauchten wieder auf, sie zog das Kleid hoch, das ihr bis zur Taille heruntergerutscht war, lächelte und berührte sanft sein Gesicht. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Wange, wußte auch nicht, wie lange er sie dort halten und wie kräftig er sie packen durfte.
Sie hätte ihm gern gesagt, daß sie ihn liebte. Aber das würde alles zerstören, es könnte ihn erschrecken oder noch schlimmer dazu führen, daß er ihr antwortete, daß er sie auch liebe. Maria wollte das nicht: Die Freiheit ihrer Liebe bestand darin, nichts zu erbitten und nichts zu erhoffen.
»Wer zu fühlen imstande ist, weiß, daß man Lust empfinden kann, noch bevor man den anderen berührt. Die Worte, die Blicke, alles enthält das Mysterium des Tanzes. Aber der Zug ist angekommen, jeder geht in seine Richtung. Ich hoffe, dich auf dieser Reise zu begleiten – wohin ging sie noch mal?«
»Zurück nach Genf«, war Ralfs Antwort.
»Wer genau hinschaut und den Menschen entdeckt, von dem er immer geträumt hat, der weiß, daß die sexuelle Energie noch vor der körperlichen Vereinigung da ist. Die größte Lust ist nicht der Sex, es ist die Leidenschaft, mit der dieser praktiziert wird. Wenn diese Leidenschaft von hoher Qualität ist, vollendet der Sex den Tanz, aber er ist niemals das Wichtigste.«
»Du redest über die Liebe wie eine Lehrerin.«
Maria fuhr fort, denn das war ihre Verteidigung, ihre Art, alles zu sagen, ohne sich selbst einzubringen:
»Liebende machen die ganze Zeit Liebe, selbst wenn sie gerade nicht miteinander schlafen. Wenn die Körper sich finden, ist das nur wie ein überlaufendes Glas. Liebende können stundenlang, tagelang beieinander sein. Sie können den Tanz an einem Tag beginnen und am nächsten beenden oder aus übergroßer Lust sogar überhaupt nicht wieder aufhören. Das hat nichts mit den elf Minuten zu tun.«
»Wie bitte?«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
»Verzeih. Ich weiß nicht, was ich sage.«
»Ich auch nicht.«
Sie stand auf, gab ihm einen Kuß und ging hinaus.
Aus Marias Tagebuch am nächsten Morgen:
Gestern nacht, als Ralf Hart mich ansah, hat er verstohlen eine Tür aufgestoßen wie ein Dieb; doch er hat mir nichts gestohlen; im Gegenteil, es blieb ein Duft nach Rosen zurück als hätte mich mein Liebster besucht und nicht ein Dieb.
Jeder Mensch hat seine eigenen Wünsche, sein eigenes Begehren. Sie sind Teil seines Schatzes. Sie können jemanden fernhalten, aber gemeinhin ziehen sie denjenigen, der wichtig ist, an. Meine Seele hat dieses Gefühl gewählt, und es ist so intensiv, daß es sich auf alle und alles um mich herum übertragen kann.
Jeden Tag wähle ich aufs neue die Wahrheit, mit der ich leben will. Ich versuche, praktisch zu sein, effizient, professionell. Aber wenn ich könnte, würde ich immer meine Wünsche und mein Begehren zu Gefährten wählen. Nicht aus Notwendigkeit und auch nicht, um nicht so einsam zu sein, sondern einfach nur, weil es mir guttut, weil es gut ist.
Im Durchschnitt waren sie achtunddreißig Frauen, die regelmäßig ins ›Copacabana‹ kamen, aber Maria konnte nur eine, die Philippinin Nyah, annähernd als Freundin bezeichnen. Im allgemeinen blieben die Frauen zwischen sechs Monaten und drei Jahren da. Entweder wurden sie sofort weggeheiratet oder als feste Geliebte abgeworben, oder aber sie hatten keine Anziehungskraft mehr auf die Freier und wurden von Milan höflich gebeten, sich nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen.
Alle wußten, wie wichtig es war, die Kundschaft der anderen zu respektieren. Sich gegenseitig die Freier auszuspannen galt nicht nur als unehrenhaft, sondern konnte auch sehr gefährlich werden. Ein paar Tage zuvor hatte eine Kolumbianerin eine Rasierklinge aus der Tasche gezogen, sie auf das Glas einer Jugoslawin gelegt und seelenruhig gedroht, die Kollegin zu entstellen, wenn diese sich noch einmal unterstand, sich von einem ihrer Stammkunden, einem Bankdirektor, einladen zu lassen. Die Jugoslawin konterte, der Bankdirektor sei ein freier Mensch, sie könne nichts dafür, wenn er sie gewählt habe.
Am selben Abend kam der Mann herein, begrüßte die Kolumbianerin und ging dann zum Tisch der Jugoslawin. Er spendierte ihr einen Drink, und während er mit ihr tanzte, zwinkerte die Jugoslawin ihrer Rivalin zu – allzu provozierend, wie Maria fand –, als wollte sie sagen: ›Siehst du? Er hat mich gewählt.‹
Ein vielsagendes Zwinkern, das auch hieß: Er hat mich ausgesuc ht, weil ich hübscher bin, weil ich beim letzten Mal mit ihm mitgegangen bin und es ihm gefallen hat. Die Kolumbianerin sagte nichts. Als die Jugoslawin zwei Stunden später zurückkam, setzte die andere sich neben sie, holte seelenruhig die Rasierklinge aus der Tasche und fuhr der Rivalin mit der Klinge neben dem Ohr entlang. Der Schnitt war nicht tief, nicht gefährlich, aber doch so, daß eine kleine Narbe zurückblieb, die die andere immer an diese Nacht erinnern würde. Die beiden wurden handgreiflich, Blut spritzte, die Kunden verließen erschrocken das Lokal.
Als die Polizei kam und wissen wollte, was passiert war, sagte die Jugoslawin, sie habe sich an einem Glas geschnitten, das vom Regal heruntergefallen sei (im ›Copacabana‹ gab es keine Regale). Das war das Gesetz des Schweigens oder die omertá, wie die italienischen Prostituierten sagten: Alles, was man in der Rue de Berne unter sich erledigen konnte, von der Liebe bis hin zum Tod, erledigte man unter sich, ohne die Hüter des Gesetzes. Man machte selbst das Gesetz.
Die Polizei wußte von der omertá, wußte, daß die Frau log, und ließ die Sache trotzdem auf sich beruhen. Milan dankte den Beamten für ihr schnelles Eingreifen, entschuldigte sich für das Mißverständnis und murmelte etwas von einer Intrige eines Konkurrenten.
Sobald sie draußen waren, zitierte Milan die beiden Mädchen zu sich und setzte sie vor die Tür. Das ›Copacabana‹ sei ein anständiges Lokal (eine Behauptung, die Maria nicht ganz nachvollziehen konnte), das seinen guten Ruf wahren müsse (was Maria amüsierte) und in dem Handgreiflichkeiten schon aus Respekt vor der Kundschaft tabu seien. Das sei oberstes Gebot.
Zweites Gebot war das der totalen Diskretion, »wie bei einer Schweizer Bank«, sagte Milan, zumal die Kunden genauso handverlesen waren wie die Privatklientel einer Bank – sie verfügten über einen guten Leumund und ein ausgeglichenes Konto. Manchmal erschienen Kunden, die nicht hierherpaßten, und es war auch schon vorgekommen, daß Mädchen nicht bezahlt, angegriffen oder bedroht worden waren. Aber über die Jahre hatte Milan einen Blick dafür entwickelt, wen er hereinlassen durfte und wen nicht. Keine der Frauen wußte genau, wonach sich sein Maßstab richtete, aber es war mehrmals vorgekommen, daß er gutangezogene Herren aus einem halbleeren Lokal hinauskomplimentiert hatte mit der Begründung, alle Tische seien besetzt, was soviel hieß wie: Lassen Sie sich hier nicht mehr blicken! Andererseits hatte Milan auch unrasierte Leute in Sportkleidung spontan zu einem Glas Champagner eingeladen. Der Besitzer des ›Copacabana‹ beurteilte die Menschen eben nicht nach dem Aussehen, und er täuschte sich selten.
Bei einer guten Geschäftsbeziehung müssen alle Beteiligten zufrieden sein. Die meisten Freier waren verheiratet, gutsituiert, erfolgreich. Auch einige Prostituierte waren verheiratet, hatten Kinder und gingen zu Elternabenden in die Schule. Nur wenn der Vater eines Mitschülers ihrer Kinder im ›Copacabana‹ auftauchte, wurde es peinlich wenn auch nicht riskant, denn da die Situation für beide Seiten unangenehm war, schwiegen auch beide.