Es ist nicht das Hotel mit dem schönen Blick auf den Fluß, mit der Erinnerung an den Schmerz, die Ekstase; die Fenster dieses Hotels gehen auf den Jakobsweg, einen Weg für Pilger statt Büßer, einen Ort, wo die Menschen einander in den Straßencafes begegnen, das ›Licht‹ entdecken, miteinander reden, sich anfreunden, sich verlieben. Es regnet, und um diese Nachtzeit liegt der Jakobsweg wie ausgestorben da – vielleicht muß der Weg sich ein wenig vo n den vielen Füßen erholen, die seit Jahrhunderten tagtäglich auf ihm entlanggegangen sind.
Das Licht ausmachen. Die Gardinen zuziehen.
Bitten, er möge sich ausziehen. Sie zieht sich auch aus. Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann sie im matten Lichtschein, der von draußen hereinfällt, die Umrisse des Mannes erkennen. Bei ihrem letzten Treffen hatte nur sie einen Teil ihres Körpers entblößt.
Zwei sorgfältig gefaltete Seidentücher hervorholen, aus denen alle Parfüm- und Seifenrückständ e herausgespült worden sind. Ihn bitten, sich die Augen zu verbinden. Er zögert, macht eine Bemerkung über die verschiedenen Höllen, durch die er bereits gegangen ist. Sie sagt, es sei keine Hölle und sie brauche vollständige Dunkelheit, denn jetzt sei sie an der Reihe, ihm etwas beizubringen. Er läßt es mit sich geschehen, legt die Augenbinde an. Sie tut es ihm nach; jetzt ist es stockfinster. Sie fassen sich bei den Händen, um zum Bett zu gelangen.
›Nein, wir dürfen uns nicht hinlegen. Wir werden uns hinsetzen, einander gegenüber, nur etwas näher beieinander als beim ersten Mal, so daß meine Knie deine Knie berühren.‹
Sie hatte das schon immer einmal machen wollen, aber nie genügend Zeit dafür gehabt. Weder mit ihrem ersten Freund noch mit dem Mann, mit dem sie zum ersten Mal geschlafen hatte. Auch nicht mit dem Araber, der für die tausend Franken, die er bezahlt hatte, vielleicht mehr erwartet hatte, als sie geben konnte. Und auch nicht mit den vielen Männern, die sich bei ihr abwechselten und die manchmal aus einem animalischen Trieb, manchmal aus einem Wiederholungszwang oder Männlichkeitswahn mit ihr schliefen und die sie manchmal kaum beachtet hatte, trotz der romantischen Anwandlungen, die manche von ihnen an den Tag legten.
Sie denkt an ihr Tagebuch. Sie hat genug von alledem. Sie weiß, daß sie in wenigen Wochen abreisen wird, und deshalb gibt sie sich diesem Mann hin, weil in ihm das Licht ihrer eigenen Liebe verborgen ist. Die Erbsünde bestand nicht darin, daß Eva den Apfel aß, sondern darin, daß Eva Adam mit hineinzog, weil sie sich nicht traute, diese Erfahrung allein zu machen.
Es gibt Dinge, die kann man nicht teilen. Wir sollten aber auch keine Angst vor den Ozeanen haben, auf die wir uns freiwillig hinauswagen; Angst ist ein schlechter Ratgeber. Menschen gehen durch die Hölle, bis sie das begriffen haben.
Wir sollen einander lieben, nicht aber einander besitzen wollen. Ich liebe diesen Mann, weil ich ihn nicht besitze und er mich nicht besitzt. Wir sind frei in unserer Hingabe, das muß ich mir dutzend-, hundert-, millionenfach vorsagen, damit ich es endlich selbst auch glaube.
Maria denkt an ihre Kolleginnen im ›Copacabana‹. Denkt an ihre Mutter, an ihre Freundinnen zu Hause: sie alle glauben, daß der Mann nur für diese elf Minuten am Tag lebt und bereit ist, dafür auch noch ein Wahnsinnsgeld zu zahlen. Aber das stimmt nicht; der Mann hat auch weibliche Seiten, auch er sucht die Begegnung, sucht einen Sinn für sein Leben.
Ob ihre Mutter es genauso machte wie Maria, wenn sie mit ihrem Mann schlief und den Orgasmus nur vortäuschte? Oder durfte in der brasilianischen Provinz eine Frau nicht zeigen, daß sie beim Sex Lust empfand? Maria wußte so wenig vom Leben, von der Liebe. Aber jetzt, mit verbundenen Augen und zeitlich völlig ungebunden, wird sie zu den Ursprüngen zurückkehren und genau dort beginnen, wo sie schon immer hatte beginnen wollen.
›Die Berührung. Vergiß die Kolleginnen, die Freier, deine Mutter, deinen Vater, es ist stockdunkel um dich herum.‹ Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, was sie dem Mann schenken könnte, der ihr ihre Würde zurückgegeben und ihr gezeigt hatte, sie hatte begreifen lassen, daß Freude wichtiger ist als Schmerz.
›Ich möchte ihm eine Freude bereiten, ihn mich etwas Neues lehren lassen, wie gestern, als er mich etwas Neues über den Schmerz lehrte und mir die doppelte Geschichte der Prostitution erzählt hat. Ich habe gesehen, wie glücklich es ihn macht, wenn er mir etwas beibringen darf, also soll er mir etwas beibringen, mich führen. Ich wüßte gern, wie man zum Körper gelangt, bevor man zur Seele, zur Penetration, zum Orgasmus kommt.‹
Sie streckt die Hand vor und bittet ihn, das gleiche zu tun. Flüstert ihm zu, daß sie möchte, daß er in dieser Nacht, an diesem Niemandsort, ihre Haut entdeckt, die Grenze zwischen ihr und der Welt. Sie bittet ihn, sie zu berühren, sie mit seinen Händen zu spüren, denn die Körper verstehen einander, auch wenn die Seelen sich nicht immer einig sind. Dann berührt er sie, und sie berührt ihn auch, und als hätten sie sich vorher abgesprochen, meiden sie die Körperteile, in denen die sexuelle Energie schneller fließt.
Seine Finger berühren ihr Gesicht, sie spürt einen leichten Farbgeruch, einen Geruch, der ihm immer anhaften wird, und wenn er sich tausendmal, millionenmal die Hände wäscht; einen Geruch, mit dem er geboren wurde, der schon da war, als er zum ersten Mal einen Baum sah oder ein Haus und davon träumte, all das zu zeichnen. Auch er muß etwas an ihrer Hand gerochen haben, doch sie weiß nicht, was es ist, und will nicht fragen, weil in diesem Augenblick alles Körper ist und sonst Schweigen herrscht.
Sie streichelt und wird gestreichelt. Sie könnte die ganze Nacht so weitermachen, weil es wunderbar ist, weil das Ziel nicht Sex ist – und in diesem Augenblick, eben weil kein Druck da ist, spürt sie die feuchte Hitze zwischen ihren Beinen. Irgendwann wird er ihr Geschlecht berühren und merken, daß sie ihn begehrt. Sie fragt sich nicht, ob es gut oder schlecht ist, aber ihr Körper reagiert nun einmal so. Und sie will nicht sagen, berühr mich hier, da oder dort, langsamer, schneller. Die Hände des Mannes berühren nun ihre Achselhöhlen, die Härchen an ihren Armen stellen sich auf, und sie möchte seine Hände am liebsten wegschieben, auch wenn es sich so schön anfühlt, daß es fast weh tut. Sie streichelt ihn an den gleichen Stellen, spürt seine Achselhöhlen, die sich anders anfühlen als ihre eigenen. Sie will nicht nachdenken. Einfach nur berühren.
Seine Finger umkreisen ihre Brust wie ein lauerndes Tier. Sie möchte, daß sie sich schneller bewegen, daß sie ihre Brustwarzen berühren, weil ihre Wünsche seinen Händen vorauseilen. Vielleicht reizt er sie absichtlich, weil er weiß, was sie möchte, läßt sich Zeit, unendlich viel Zeit. Ihre Brustwarzen sind hart, er spielt mit ihnen, und das verursacht ihr noch mehr Gänsehaut, und sie zerfließt. Jetzt wandern seine Hände über ihren Bauch, hinab zu den Beinen, den Füßen, er fährt mit beiden Händen an der Innenseite ihrer Schenkel entlang, spürt die Hitze, nähert sich aber nicht, seine Berührung ist sanft, federleicht, und je leichter sie ist, um so verrückter macht es sie.
Sie tut dasselbe, hält die Hände gleichsam in der Schwebe, streift nur sacht über die Härchen an seinen Beinen und spürt auch die Hitze, als sie sich seinem Geschlecht nähert. Es kommt ihr so vor, als hätte sie plötzlich und auf geheimnisvolle Weise ihre Jungfräulichkeit wiedererlangt, als entdeckte sie zum ersten Mal einen männlichen Körper. Sie berührt seinen Penis. Er ist nicht hart, wie sie gedacht hatte. Sie selbst ist ganz naß. Das ist ungerecht, aber vielleicht braucht der Mann länger, wer weiß.
Und sie beginnt ihn zu liebkosen, nicht routiniert wie eine Prostituierte, sondern zart, wie es nur Jungfrauen können. Der Mann reagiert, sein Penis beginnt in ihren Händen zu wachsen, und sie erhöht langsam den Druck, weiß nun, wo sie ihn berühren muß. Jetzt ist er erregt, sehr erregt, streicht mit den Fingern ihren Schamlippen entlang, während sie möchte, daß er kräftiger zupackt und seine Finger dort hineinwühlt. Er aber verteilt etwas von ihrer Nässe auf die Klitoris und umkreist diese mit den gleichen lauernden Bewegungen wie vorher ihre Brustwarzen. Dieser Mann berührt sie, wie sie sich selbst berühren würde.
Eine Hand wandert wieder zur Brust hinauf, wie gut das ist, wie sehr sie sich wünscht, sich in seine Arme zu schmiegen! Aber nein, sie entdecken ihre Körper, haben Zeit, brauchen viel Zeit. Sie könnten sich jetzt lieben, und das wäre nur natürlich und bestimmt schön, aber sie muß sich beherrschen, darf den Zauber dieser Entdeckungsreise nicht zerstören. Sie erinnert sich an den Wein, den sie in der ersten Nacht getrunken hatten, langsam, genießerisch, wie er sie gewärmt hatte, sie die Welt anders sehen ließ, enthemmte.
Sie will diesen Mann genießen wie einen guten Wein und dadurch all den schlechten Wem vergessen, den man in sich hineinkippt, der aber nur betrunken macht und einen mit Kopfschmerzen und einem Gefühl von seelischer Leere zurückläßt.
Sie hält inne, verschränkt sanft ihre Finger mit seinen, hört ihn stöhnen und möchte auch stöhnen, beherrscht sich aber, spürt die Hitze an ihrem ganzen Körper und an seinem genauso. Wenn der Orgasmus ausbleibt, verteilt sich die Energie, geht ins Hirn, läßt einen an nichts anderes denken als daran, bis zum Ende zu gehen. Doch sie will genau dies: aufhören, mittendrin aufhören, die Lust durch den Körper fließen lassen, Geist und Begehren wieder erneuern, wieder Jungfrau sein.
Sie nimmt die Binde von den Augen und löst auch seine. Beide sind nackt, sehen einander einfach nur an, ohne zu lächeln. ›Ich bin die Liebe, ich bin die Musik‹, denkt sie. ›Laß uns tanzen.‹
Aber sie sagt es nicht laut. Sie reden über Triviales: Wann treffen wir uns wieder, sie schlägt einen Termin vor, vielleicht in zwei Tagen. Er sagt, er würde sie gern zu einer Vernissage mitnehmen, sie zögert. Das würde bedeuten, seine Welt kennenzulernen, seine Freunde. Und was würden die sagen? Was würden sie denken?
Sie lehnt ab. Aber er merkt, daß sie gern eingewilligt hätte, und er versucht sie zu überreden, mit den verrücktesten Begründungen, die aber Teil des Tanzes sind, den sie jetzt tanzen, und am Ende gibt sie nach, weil es genau das war, was sie wollte. Er schlägt als Treffpunkt das Cafe vor, in dem sie sich kennenlernten. Sie sagt nein, die Brasilianer seien abergläubisch, sie dürften sich nicht zweimal am selben Ort treffen, weil sich der Kreis sonst schließen und alles zu Ende sein könnte.
Er sagt, er sei glücklich, daß sie den Kreis nicht schließen wolle. Sie entscheiden sich für eine Kirche, von der aus man auf die Stadt sehen kann und die am Jakobsweg liegt und Teil dieser geheimnisvollen Wallfahrt ist, die beide machen, seit sie einander begegnet sind.