Die Stewardeß wollte ihr Ticket sehen und meinte dann, leider würde ihr dieses keinen Stopover erlauben. Maria tröstete sich damit, daß es womöglich deprimierend gewesen wäre, eine so schöne Stadt allein zu entdecken. Sie schaffte es ja nur mit Müh und Not, ihren kühlen Kopf und ihre Willenskraft zu bewahren. Eine schöne Stadt, gekoppelt mit der Sehnsucht nach jemandem, das hatte ihr gerade noch gefehlt!
Sie stieg aus, ging durch die Gänge zum anderen Terminal. Ihr Gepäck war durchgecheckt, sie brauchte sich nicht darum zu kümmern. Die Türen gingen auf, die Passagiere traten hinaus, wurden erwartet, von Ehepartnern, Müttern, Kindern in die Arme geschlossen. Maria tat unbeteiligt und wurde sich gleichzeitig ihrer Einsamkeit doppelt bewußt; nur daß sie diesmal ein Geheimnis hatte, einen Traum, und darum nicht so bitter war und das Leben leichter nehmen konnte.
»Uns bleibt immer Paris.«
Das war kein Touristenführer. Das war kein Taxifahrer. Ihre Beine zitterten, als sie diese Stimme hörte.
»Uns bleibt immer Paris.«
»Das ist ein Satz aus einem Film, den ich sehr liebe. Möchtest du den Eiffelturm sehen?«
Das wollte sie gern. Sogar sehr gern. Ralf hatte einen Rosenstrauß im Arm, und seine Augen waren voller Licht.
»Wie hast du es geschafft, vor mir hier zu sein?« fragte sie, im Grunde nur, um etwas zu sagen, denn die Antwort interessierte sie überhaupt nic ht. Sie brauchte nur etwas Zeit, um durchzuatmen.
»Ich sah dich in einer Zeitschrift lesen. Ich hätte zu dir kommen können, aber ich bin romantisch, unheilbar romantisch, und fand es besser, die erste Maschine nach Paris zu nehmen, ein wenig auf dem Flughafen herumzuspazieren, drei Stunden zu warten, unzählige Male die Ankunftszeiten zu kontrollieren, Blumen für dich zu kaufen, Ricks Satz aus ›Casablanca‹ vor mich hin zu sagen und mir dein überraschtes Gesicht vorzustellen. Und ich wollte sicher sein, daß es genau das ist, was du willst, daß du auf mich gewartet hast, daß alle Entschlossenheit und Willenskraft der Welt nicht verhindern können, daß die Liebe die Spielregeln von einem Augenblick auf den anderen umstößt. Es kostet doch nichts, romantisch zu sein wie in den Filmen, oder?«
Sie wußte nicht, ob es etwas kostete oder nicht, aber der Preis war ihr gleichgültig – auch wenn ihr klar war, daß sie diesen Mann erst vor kurzem kennengelernt hatte, sie sich erst vor wenigen Stunden das erste Mal geliebt hatten, er sie erst gestern seinen Freunden vorgestellt hatte. Sie wußte, daß er Stammkunde im ›Copacabana‹ und daß er zweimal verheiratet gewesen war. Und das sprach nicht gerade für ihn. Sie hingegen hatte genug Geld, um eine Farm zu kaufen, war jung und besaß trotzdem eine große Erfahrung in Lebens-und Seelenfragen. Aber das Schicksal stellte sie erneut vor die Wahl. Und wieder einmal fand sie, daß sie das Risiko eingehen sollte.
Mochte geschehen, was wollte, nachdem das Wort ›Ende‹ eingeblendet wurde. Sie küßte ihn. Nur eins stand für sie fest: Sollte eines Tages jemand beschließen, ihre Geschichte zu erzählen, dann müßte er sie mit den Worten beginnen, mit denen die Märchen anfangen:
Es war einmal…
Wie alle Menschen auf der Welt – und in diesem Fall fürchte ich mich keineswegs vor Verallgemeinerungen habe ich lange gebraucht, um die heilige Seite des Sex zu entdecken. Meine Jugend fiel in eine Zeit extremer sexueller Freizügigkeit, in der wir viel Wichtiges herausfanden aber auch Exzesse durchlebten. Auf sie folgte eine konservative, repressive Zeit, die, als Preis für die Übertreibungen, zum Teil traumatische Folgen hatte.
In diesem Jahrzehnt der Exzesse (gemeint sind die siebziger Jahre) schrieb der Schriftsteller Irving Wallace ein Buch über die amerikanische Zensur und benutzte dazu das juristische Geplänkel um die Publikation eines Texte: über Sex, die mit allen Mitteln verhindert werden soll: Die sieben Minuten.
Allerdings dient das verbotene Buch im Roman von Wallace nur als Vorwand, und sexue lle Aktivitäten werden nur selten dargestellt. Ich habe mir damals ausgemalt, was dieses verbotene Buch wohl erzählt hat; und mit dem Gedanken gespielt, es zu schreiben.
Letztlich habe ich mir den Gedanken aus dem Kopf geschlagen, unter anderem auch, weil Wallace in seinem Buc h den nicht existenten Roman ziemlich genau beschrieben hat. Übrig blieb der Titel (ich fand Wallace' Zeitangabe allerdings sehr konservativ und beschloß die von ihm angegebene Zeitspanne zu verlängern). Und geblieben ist auch, daß ich mir vornahm, einmal ernsthaft über Sexualität zu schreiben, was im übrigen viele Schriftsteller vor mir bereits getan hatten.
1997 mußte ich in Mantua einen Vortrag halten. Als ich anschließend ins Hotel kam, überreichte mir der Portier ein Manuskript, das für mich abgegeben worden war. Normalerweise lese ich solche Manuskripte nicht, aber dieses habe ich gelesen – die wahre Geschichte einer brasilianischen Prostituierten, die mit dem Gesetz in Konflikt kommt, ihre Ehen, ihre Abenteuer. Als ich 2000 auf der Durchreise in Zürich war, rief ich jene Prostituierte an (deren Deckname Sonia ist) und sagte ihr, daß mir ihr Text gefallen habe. Ich empfahl ihr, ihn an meinen brasilianischen Verlag zu schicken, der jedoch entschied, ihn nicht zu veröffentlichen. Sonia, die damals in Italien lebte, nahm den Zug und traf mich in Zürich. Sie lud mich und einen Freund und eine Reporterin des ›Blick‹, die mich gerade interviewt hatte, zu einem Besuch in der Langstraße ein, dem Rotlichtmilieu von Zürich. Ich wußte nicht, daß sie ihren Kolleginnen von unserem Kommen erzählt hatte, und zu meiner Überraschung endete das Ganze mit einer improvisierten Signierstunde, in der ich Ausgaben meiner Bücher in allen Sprachen der Welt vorgelegt bekam.
Damals war ich bereits entschlossen, über Sex zu schreiben, doch ich hatte weder einen Plot noch eine Hauptfigur. Ich dachte an etwas, was sehr viel mehr mit der konventionellen Suche nach dem heiligen Aspekt des Sex zu tun hatte. Doch dieser Besuch in der Langstraße lehrte mich etwas: Um über die heilige Seite des Sex schreiben zu können, mußte ich begreifen, warum Sex so herabgewürdigt worden war.
Im Gespräch mit einem Journalisten der Schweize r Zeitschrift ›L'illustre‹ erzählte ich die Geschichte von der improvisierten Signierstunde in der Langstraße, und er veröffentlichte dazu eine große Reportage. Die Folge war, daß bei einer Lesung in Genf ebenfalls Prostituierte mit ihren Büchern erschienen. Auf eine wurde ich besonders aufmerksam – ich ging zusammen mit ihr und meiner Agentin und Freundin Monica Antunes einen Kaffee trinken. Daraus wurde ein Abendessen, dem mehrere Treffen in den nächsten Tagen folgten. Damals entstand der rote Faden von Elf Minuten.
Ich möchte Anna von Planta, meiner Schweizer Lektorin, danken, die mir einige wichtige Hinweise zur rechtlichen Situation der Prostituierten in ihrem Lande gegeben hat. Danken möchte ich auch folgenden Frauen in Zürich (Decknamen): Sonia, die ich das erste Mal in Mantua getroffen habe (wer weiß, vielleicht interessiert sich ja einmal jemand für ihr Buch!), Martha, Antenora, Isabella. Und in Genf (auch Decknamen): Amy, Lucia, Andrei, Vanessa, Patrick, Therese, Anna Christina.
Ich danke auch Antonella Zara, die mir erlaubte, Ausschnitte aus ihrem Buch Die Wissenschaft der Leidenschaft in Marias Tagebuch zu benutzen.
Schließlich möchte ich Maria (Deckname) danken, die heute in Lausanne lebt, verheiratet ist und zwei hübsche Töchter hat. Auf ihrer Geschichte, die sie Monica und mir erzählt hat, basiert dieses Buch.
Paulo Coelho, Winter/Frühling 2002
Am 29. Mai 2002 bin ich, wenige Stunden bevor ich den Schlußpunkt unter dieses Buch setzte, in die Grotte von Lourdes gegangen, um dort aus der Quelle ein paar Gallonen des wundertätigen Wassers abzufüllen. Ein etwa siebzigjähriger Mann sprach mich an. »Wußten Sie, daß Sie Paulo Coelho ähnlich sehen?« fragte er. Ich antwortete ihm, daß ich derselbe sei. Der Mann umarmte mich, stellte mir seine Ehefrau und seine Enkelin vor. Er erzählte mir, wie wichtig meine Bücher in seinem Leben gewesen seien, und schloß mit den Worten: »Sie bringen mich zum Träumen.« Diesen Satz hatte ich schon mehrfach gehört, und er hatte mich immer glücklich gemacht. In diesem Augenblick war ich jedoch sehr erschrocken – denn ich wußte, daß Elf Minuten ein schwieriges, sperriges, schockierendes Thema behandelte. Ich ging zur Quelle, füllte das Wasser ab und fragte ihn dann, wo er wohne (im Norden Frankreichs, nahe der belgischen Grenze), und notierte mir seinen Namen.
Dieses Buch ist Ihnen gewidmet, Maurice Gravelines. Ich bin Ihnen, Ihrer Frau, Ihrer Enkelin verpflichtet. Aber vor allem mir selbst verpflichtet, über das zu sprechen, was mich beschäftigt, nicht über das, was alle gern hören würden. Einige Bücher bringen uns zum Träumen, andere führen uns zur Realität, aber mit keinem Buch darf der Autor aufgeben, was ihm am wichtigsten ist: die Aufrichtigkeit, mit der er schreibt.