»Er wurde von den Göttern erleuchtet«, antwortete der Stadthauptmann. »Und er wird uns helfen, die beste Lösung zu finden.« Schnell wechselte er das Thema.

»Es scheinen heute noch mehr Zelte zu sein.« »Und morgen noch viel mehr«, sagte der Kommandant.

»Hätten wir sie vernichtet, als es nur eine Patrouille war, wären sie wahrscheinlich nie zurückgekommen.« »Ihr irrt. Einer von ihnen wäre uns bestimmt entwischt, und dann wären sie wiedergekommen, um sich zu rächen.« »Wenn wir die Ernte aufschieben, verfaulen die Früchte«, beharrte der Kommandant. »Wenn wir aber die Probleme aufschieben, wachsen sie immer weiter.« Der Stadthauptmann erklärte, daß nunmehr seit drei Jahrhunderten Friede in Phönizien herrschte und das Volk sehr stolz darauf sei. Was würden kommende Generationen sagen, wenn er diese Ära des Wohlstandes abbrach?

»Schickt einen Emissär, um mit ihnen zu verhandeln«, sagte Elia. »Der beste Krieger ist der, dem es gelingt, sich seinen Feind zum Freund zu machen.« »Wir wissen nicht genau, was sie vorhaben. Wir wissen nicht einmal, ob sie unsere Stadt erobern wollen. Wie sollen wir da verhandeln?« »Es gibt bedrohliche Anzeichen. Ein Heer vertut nicht seine Zeit damit, fern seiner Heimat militärische Übungen zu machen.« Jeden Tag kamen mehr Soldaten – und der Stadthauptmann überlegte sich, wieviel Wasser all diese Männer wohl brauchten. In kürzester Zeit würde die Stadt dem feindlichen Heer schutzlos ausgeliefert sein.

»Können wir jetzt angreifen?« fragte der Priester den Kommandanten.

»Ja, das können wir. Wir werden viele Männer verlieren, doch die Stadt wird gerettet werden. Aber wir müssen uns schnell entscheiden.« »Das sollten wir nicht tun, Stadthauptmann. Die Götter des Fünften Berges haben mir gesagt, daß uns noch Zeit bleibt, um eine friedliche Lösung zu finden«, rief Elia. Und der Stadthauptmann tat so, als gebe er ihm recht und als ginge ihn die Auseinandersetzung zwischen dem Priester und dem Israeliten nichts an. Ihm war es gleichgültig, ob Sidon und Tyrus von Phöniziern, den Kanaanitern oder Assyrern regiert wurden.

Wichtig war allein, daß die Stadt weiterhin ihre Erzeugnisse verkaufen konnte.

»Greifen wir an«, beharrte der Priester.

»Einen Tag noch«, bat der Stadthauptmann. »Vielleicht findet sich noch eine Lösung.« Er würde schnell entscheiden müssen, wie der Bedrohung durch die Assyrer am besten zu begegnen war. Er stieg von der Mauer herab und bat den Israeliten, ihn zum Palast zurückzubegleiten.

Unterwegs beobachtete er das Volk um ihn herum: die Hirten, die ihre Schafe in die Berge führten, die Bauern, die auf die Felder gingen, wo sie dem trockenen Boden Nahrung für sich und ihre Familien abzutrotzen versuchten. Soldaten übten mit ihren Lanzen, und einige vor kurzem eingetroffene Kaufleute boten ihre Waren auf dem Marktplatz feil. So unglaublich es auch scheinen mochte: Die Assyrer hatten die Straße nicht geschlossen, die das ganze Tal durchschnitt. Die Kaufleute waren immer noch mit ihren Waren unterwegs und zahlten der Stadt Wegzoll.

»Warum schließen sie die Straße nicht, obwohl sie eine gewaltige Streitmacht zusammengezogen haben?« wollte Elia wissen.

»Das assyrische Reich braucht die Erzeugnisse, die in den Häfen von Sidon und Tyrus ankommen«, antwortete der Stadthauptmann. »Die Lieferungen würden unterbrochen, wenn die Kaufleute bedroht werden. Und die Folgen wären schlimmer als eine militärische Niederlage. Es muß eine Möglichkeit geben, den Krieg zu verhindern.« »Ja«, sagte Elia. »Wenn sie Wasser haben wollen, könnten wir es verkaufen.« Der Stadthauptmann sagte nichts. Doch er begriff, daß er den Israeliten als Waffe gegen die benutzen konnte, die den Krieg wollten. Er war auf den Gipfel des Fünften Berges gestiegen und hatte den Göttern getrotzt. Und wenn der Priester weiter darauf beharren würde, gegen die Assyrer zu kämpfen, wäre Elia der einzige, der ihm die Stirn bieten könnte. Er schlug vor, miteinander einen Spaziergang zu machen, damit sie sich etwas unterhielten.

Der Priester blieb oben stehen und beobachtete den Feind.

»Was können die Götter tun, um die Invasoren aufzuhalten?« fragte der Kommandant.

»Ich habe vor dem Fünften Berg Opfer gebracht. Ich habe gebeten, sie möchten uns ein mutigeres Oberhaupt schicken.« »Wir sollten es halten wie Isebel und die Propheten töten. Ein einfacher Israelit, der gestern noch zum Tode verurteilt war, wird heute vom Stadthauptmann dazu benutzt, das Volk von der Notwendigkeit eines Friedens zu überzeugen.« Der Kommandant blickte auf den Berg.

»Wir könnten jemanden dingen, der Elia tötet. Und meine Krieger dazu benutzen, den Stadthauptmann aus den Regierungsgeschäften zu vertreiben.« »Ich werde befehlen, Elia zu töten«, antwortete der Priester.

»Was den Stadthauptmann betrifft, sind uns die Hände gebunden: Seine Familie ist seit Generationen an der Macht.

Sein Großvater war unser Stadthauptmann, der die Macht der Götter an seinen Vater weitergegeben hat, der sie wiederum an seinen Sohn weitergab.« »Nur weil die Tradition uns untersagt, einen fähigeren Mann an seine Stelle zu setzen?« »Die Tradition ist dazu da, die Ordnung der Welt zu erhalten.

Wenn wir daran rühren, endet die Welt.« Der Priester blickte um sich. Himmel und Erde, Berge und Tal, jedes Ding erfüllte, was für es bestimmt war. Manchmal zitterte der Boden, ein andermal – wie jetzt -regnete es lange nicht.

Doch die Sterne blieben an ihrem Platz, und die Sonne war den Menschen nicht auf den Kopf gefallen. Alles weil seit der Sintflut die Menschen gelernt hatten, daß an die Ordnung der Schöpfung nicht gerührt werden durfte.

Einstmals hatte es nur den Fünften Berg gegeben. Menschen und Götter hatten zusammengelebt, waren in den schönen Gärten des Paradieses gelustwandelt, hatten miteinander geredet und gelacht. Doch die Menschen hatten gesündigt und die Götter hatten sie von dort vertrieben. Da es nichts gab, wohin sie sie schicken konnten, hatten sie rings um den Berg die Erde erschaffen, wo sie sie aussetzen, überwachen und dafür sorgen konnten, daß sie nie vergaßen, daß sie den Bewohnern des Fünften Berges weit unterlegen waren.

Sie sahen jedoch davon ab, den Menschen die Tür auf ewig zu verschließen. Wenn die Menschheit auf dem Pfad der Tugend wandelte, würde sie eines Tages wieder auf den Gipfel des Berges zurückkehren. Damit dieser Gedanke nicht vergessen wurde, beauftragten die Götter die Priester und die Regierenden damit, sie in der Vorstellung lebendig zu erhalten.

Alle Völker teilten denselben Glauben: Wenn die von den Göttern gesalbten Familien sich von der Macht entfernten, waren die Folgen katastrophal. Niemand erinnerte sich mehr daran, weshalb diese Familien erwählt worden waren, doch alle wußten, daß sie mit den göttlichen Familien verwandt waren.

Akbar bestand schon Hunderte von Jahren, und immer hatte die Familie des Stadthauptmanns regiert. Es war oftmals eingenommen und von Diktatoren und Barbaren beherrscht worden, doch immer waren die Invasoren mit der Zeit entweder von selbst wieder gegangen oder vertrieben worden. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt, und die Menschen führten ihr Leben weiter wie zuvor.

Es war die Pflicht der Priester, diese Ordnung aufrechtzuerhalten: Die Welt besaß ein Schicksal und unterlag Gesetzen. Die Zeit, in der man versuchte, die Götter zu verstehen, war längst vorüber. Jetzt herrschte das Zeitalter, in dem sie respektiert wurden und alles getan wurde, was sie wollten. Sie waren launisch und leicht zu erzürnen.

Ohne die Ernterituale gab die Erde keine Früchte. Ohne die entsprechenden Opfer wurde die Stadt von tödlichen Krankheiten heimgesucht. Wenn man den Wettergott reizte, hörten Getreide und Menschen auf zu wachsen.

»Sieh den Fünften Berg«, sagte der Priester zum Kommandanten. »Von seinem Gipfel aus beherrschen die Götter das Tal und beschützen uns. Sie haben einen ewigen Plan für Akbar. Der Fremde wird getötet werden oder in sein Land zurückkehren, der Stadthauptmann wird eines Tages sterben, und sein Sohn wird weiser sein als er. Was wir jetzt erleben, geht vorüber.« »Wir brauchen einen neuen Stadthauptmann«, sagte der Kommandant. »Verbleiben wir in den Händen dieses Mannes, werden wir alle zerstört werden.« Der Priester wußte, daß dies der Götter Wille war, um der Bedrohung durch die Schrift von Byblos ein Ende zu bereiten.


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