Die Menge schrie, wurde immer grausamer, warf die Steine immer heftiger, und der Verurteilte versuchte sie so gut wie möglich abzuwehren. Dann plötzlich breitete er die Arme aus und sprach in einer Sprache, die alle verstehen konnten und mitten in ihrer Bewegung innehalten ließ: »Es lebe Assyrien!« rief er. »Jetzt blicke ich zu meinem Volk und sterbe froh, weil ich als General sterbe, der versucht hat, das Leben seiner Krieger zu retten. Die Götter werden mich bei sich aufnehmen, und ich sterbe im Vertrauen darauf, daß wir diese Erde erobern werden!« »Seht Ihr?« sagte der Priester. »Er hat unser ganzes Gespräch und unsere ganze Verhandlung mit angehört!« Der Stadthauptmann mußte ihm recht geben. Der Mann sprach ihre Sprache und wußte jetzt, daß im Rat von Akbar Uneinigkeit herrschte.

»Ich bin nicht in der Hölle, weil das Angesicht meines Landes mir Würde und Kraft verleiht. Das Angesicht meines Landes gibt mir Freude! Es lebe Assyrien!« schrie der Verurteilte abermals.

Nachdem das Volk sich von seinem Schrecken erholt hatte, setzte der Steinhagel wieder ein. Der Mann hielt die Arme ausgebreitet, schützte sich nicht mehr – er war ein tapferer Krieger. Sekunden später erbarmten sich die Götter, ein Stein traf ihn an der Stirn, und er wurde ohnmächtig.

»Wir können jetzt gehen«, sagte der Priester. »Das Volk von Akbar wird seine Aufgabe zu Ende bringen.« Elia ging nicht zum Haus der Witwe zurück, sondern hinaus in die Wüste, in der er ziellos umherwanderte.

»Der Herr hat nichts getan«, sagte er zu den Pflanzen und Felsen. »Und er hätte etwas tun können.« Er bereute seine Entscheidung, weil er meinte, daß seinetwegen schon wieder jemand sterben mußte. Wäre er auf den Vorschlag des Priesters eingegangen, den Rat von Akbar hinter verschlossenen Türen tagen zu lassen, hätte der Stadthauptmann ihn mitnehmen können. Sie wären dann gegen den Priester und den Kommandanten zwei gegen zwei gewesen. Sie hätten wohl immer noch wenig Chancen gehabt, sich durchzusetzen, aber doch mehr als bei einem öffentlichen Richtspruch. Schlimmer noch: Es hatte ihn beeindruckt, wie der Priester die Menge angesprochen und gelenkt hatte. Was der Priester gesagt hatte, gefiel ihm gar nicht, zumal er in ihm jemanden vor sich hatte, der die Massen gefügig zu machen wußte. Er würde versuchen, sich das Schauspiel in allen Einzelheiten einzuprägen, damit er es präsent hätte, wenn er dereinst nach Israel zurückkehrte und dem König und seiner Königin gegenüberstand.

Ziellos wanderte Elia weiter, blickte auf die Berge, zur Stadt und hinaus zum Feldlager der Assyrer. Er war nur ein Punkt in diesem Tal, und um ihn herum breitete sich eine unendliche Welt, so groß und weit, daß er ein Leben lang unterwegs sein und doch nie ans Ende gelangen könnte. Seine Freunde wie auch seine Feinde verstanden vielleicht die Welt, in der sie lebten, besser. Sie konnten in ferne Länder reisen, unbekannte Meere befahren, mit gutem Gewissen eine Frau lieben. Keiner von ihnen hörte noch die Engel der Kindheit oder kämpfte gar im Namen des Herrn. Sie lebten in der Gegenwart und waren glücklich dabei.

Er war auch nur ein Mensch wie alle anderen – und in diesem Augenblick, da er durch das Tal wanderte, wünschte er mehr denn je, die Stimme des Herrn und seiner Engel nie vernommen zu haben. Doch das Leben besteht nicht aus Wünschen, sondern aus den Taten eines jeden einzelnen. Wie oft hatte er schon versucht, seine Mission aufzugeben, und dennoch war er jetzt hier in der Wüste, weil der Herr es so wollte.

»Mein Gott, dabei könnte ich einfach nur Tischler sein und so Deinem Werk dienen.« Doch Elia tat wie geheißen, und er trug schwer an dem sich abzeichnenden Krieg, an dem Massaker Isebels an den Propheten, der Steinigung des assyrischen Generals und an seiner Angst vor der Liebe zu einer Frau aus Akbar. Der Herr hatte ihn beschenkt, doch Elia wußte nicht, was er mit dem Geschenk anfangen sollte.

Dann, mitten im Tal, erschien das Licht. Es war nicht sein Schutzengel, den er sonst immer hörte und selten sah. Es war ein Engel des Herrn, der kam, um ihn zu trösten.

»Ich kann hier nichts mehr tun«, sagte Elia. »Wann werde ich nach Israel zurückkehren?« »Wenn du gelernt hast, wieder aufzubauen«, antwortete der Engel. »Doch denk an das, was Gott Mose vor einem Kampf gelehrt hat. Genieße jeden Augenblick, damit du später nichts bereust, noch das Gefühl hast, deine Jugend verloren zu haben. Denn sonst kommt es so: Mit einem Mädchen wirst du dich verloben; aber ein anderer wird es sich nehmen. Ein Haus wirst du bauen; aber du wirst nicht darin wohnen. Einen Weinberg wirst du pflanzen, aber du wirst seine Früchte nicht genießen.

Gott gibt jedem Alter des Menschen seine dazugehörigen Sorgen.« Und Elia wanderte lange und versuchte zu begreifen, was er gehört hatte. Als er sich umdrehte, um zurück nach Akbar zu gehen, sah er die Frau, die er liebte, ganz in der Nähe vor dem Fünften Berg auf einem Stein sitzen.

>Was macht sie dort? Weiß sie etwa von dem Richtspruch, vom Todesurteil und von den Gefahren, die uns jetzt erwarten?< Er mußte sie unverzüglich warnen. Und er ging zu ihr.

Sie bemerkte ihn und winkte. Da waren die Worte des Engels wie weggewischt, denn Elias Unsicherheit kehrte schlagartig zurück. Er versuchte so zu tun, als sei er mit den Problemen der Stadt beschäftigt, damit sie nicht bemerkte, wie sehr sein Herz und sein Verstand verwirrt waren.

»Was macht Ihr hier?« fragte er, als er vor ihr stand.

»Ich kam, um ein wenig Inspiration zu suchen. Die Schrift, die ich lerne, ließ mich daran denken, wie die Täler, die Berge, die Stadt Akbar gezeichnet sind. Kaufleute haben mir Tusche in allen Farben gegeben, damit ich für sie schreibe.

Jetzt will ich sie dazu verwenden, die Welt zu beschreiben, in der ich lebe, aber ich weiß, daß es schwierig ist: Obwohl ich alle Farben habe, kann nur der Herr sie so harmonisch mischen.« Sie starrte auf den Fünften Berg. Sie war eine ganz andere Frau geworden, als die, die er wenige Monate zuvor beim Brennholzsammeln angetroffen hatte. Daß sie sich allein mitten in die Wüste wagte, flößte ihm Achtung und Vertrauen ein.

»Warum tragen alle Berge einen Namen, nur der Fünfte Berg nicht?« fragte Elia.

»Um keinen Streit zwischen den Göttern zu stiften«, antwortete sie. »Man sagte uns, wenn der Mensch diesen Berg nach einem bestimmten Gott benannt hätte, wären die anderen zornig geworden und hätten die Erde zerstört. Daher heißt er der Fünfte Berg, weil es der fünfte Berg ist, den wir jenseits der Mauern sehen. So ist keiner gekränkt – und das Universum bleibt unversehrt.« Sie schwiegen eine Weile. Die Frau brach das Schweigen.

»Ich habe nicht nur über die Farben nachgedacht, sondern auch über die Gefahr der Byblos-Schrift. Sie könnte die phönizischen Götter und Gott unseren Herrn erzürnen.« »Es gibt nur den Herrn«, unterbrach Elia. »Und alle zivilisierten Länder haben eine Schrift.« »Die ist aber nicht überall dieselbe. Als Kind ging ich immer zum Marktplatz, um dem Wortemaler bei der Arbeit für die Kaufleute zuzusehen. Seine Zeichnungen, die auf der ägyptischen Schrift basierten, verlangten viel Wissen und Können. Jetzt befindet sich das alte, mächtige Ägypten im Niedergang, hat kein Geld mehr, um irgend etwas zu kaufen, und niemand benutzt mehr seine Schrift. Die Seefahrer von Tyrus und Sidon verbreiten die Schrift von Byblos auf der ganzen Welt. Die heiligen Worte und Zeremonien können auf Tontafeln geschrieben und von Land zu Land weitergereicht werden. Was wird aus der Welt, wenn skrupellose Menschen beginnen, die Rituale zu benutzen, um ins Universum einzugreifen?« Elia begriff, was die Frau sagen wollte. Die Schrift von Byblos beruhte auf einem einfachen System: Man brauchte nur die ägyptischen Zeichnungen in Laute umzuwandeln und dann jedem Laut einen Buchstaben zuzuweisen. Brachte man dann die Buchstaben in eine Ordnung, konnte man alle nur möglichen Laute schaffen und alles beschreiben, was es im Universum gab.


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