Ich habe von ihnen viel gelernt. Andererseits habe ich mir die Klagen ihrer Bewohner angehört und mit Gottes Hilfe ihre internen Konflikte gelöst. Mehrfach war ich in Gefahr, doch immer hat mir jemand geholfen. Warum muß ich wählen, ob ich diese Stadt retten will oder mein Volk?« »Weil der Mensch wählen muß«, entgegnete der Engel. »Seine Stärke ist seine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.« »Es ist eine schwierige Wahl: Sie verlangt, daß ich den Tod eines Volkes hinnehme, um ein anderes zu retten.« »Den eigenen Weg zu finden ist noch schwieriger. Aber wer nicht wählt, stirbt in den Augen des Herrn, auch wenn er äußerlich weiterlebt.« Elia hob abermals die Arme zum Himmel: »Die Schönheit einer Frau ist schuld, daß sich mein Volk vom Herrn abwandte.

Phönizien steht vor dem Untergang, weil ein Priester glaubt, daß die Schrift die Götter bedrohe. Warum schreibt der Schöpfer dieser Welt das Buch des Schicksals lieber als Tragödie?« Die Berge warfen Elias Rufe als Echo zurück. »Du weißt nicht, was du sagst«, antwortete der Engel. »Es gibt keine Tragödie, es gibt nur das Unabwendbare. Alles hat seinen Grund. Es gibt nur einen Gegensatz: vergänglich oder ewig.« »Was ist vergänglich?« fragte Elia. »Das Unabwendbare.« »Und was ist ewig?« »Die Lehren, die man aus dem Unabwendbaren zieht.« Und indem er dies sagte, entschwand der Engel.

Beim Abendessen sagte Elia zur Frau und zum Jungen: »Packt eure Sachen. Wir müssen jeden Augenblick aufbrechen.« »Seit zwei Tagen schläfst du nicht«, sagte die Frau. »Ein Bote des Stadthauptmanns war heute nachmittag hier und wollte, daß du ihn zum Palast begleitest. Ich sagte, du wärest im Tal und würdest dort schlafen.« »Du hast recht getan«, antwortete er und ging sogleich in sein Zimmer, wo er in einen tiefen Schlaf fiel.

Am anderen Morgen weckte ihn der Klang von Musikinstrumenten. Als er hinunterging, um nachzusehen, war der Junge schon an der Tür.

»Schau!« sagte er mit vor Erregung glänzenden Augen. »Es ist Krieg!« Ein Bataillon Soldaten, die in ihren Kriegsgewändern und mit ihren Waffen eindrucksvoll aussahen, marschierte zum Südtor.

Eine Gruppe Musikanten folgte ihnen und schlug auf ihren Trommeln den Takt.

»Gestern hattest du noch Angst«, sagte Elia zum Jungen.

»Ich wußte nicht, daß wir so viele Soldaten haben. Unsere Krieger sind die besten!« Er ließ den Jungen stehen und trat auf die Straße hinaus. Er mußte unbedingt zum Stadthauptmann. Die anderen Bewohner der Stadt waren auch vom Klang der Kriegslieder geweckt worden und sahen gebannt dem Bataillon nach, das in Reih und Glied mit seinen Lanzen und Schilden vorbeizog, in denen sich die ersten Sonnenstrahlen spiegelten. Der Kommandant hatte hervorragende Arbeit geleistet, sein Heer gleichsam über Nacht kampffähig gemacht und wollte ihnen allen nun weismachen, daß sie die Assyrer besiegen könnten.

Elia bahnte sich einen Weg durch die Soldaten und gelangte bis an den Anfang der Kolonne, die der Kommandant und der Stadthauptmann, beide hoch zu Roß, anführten.

»Wir hatten ein Abkommen«, sagte Elia, indem er neben dem Stadthauptmann herlief. »Ich kann ein Wunder tun!« Der Stadthauptmann antwortete ihm nicht. Das Heer trat aus den Mauern heraus und marschierte zum Tal.

»Ihr wißt, daß dieses Heer eine Illusion ist!« beharrte Elia. »Die Assyrer sind fünfmal mehr und haben außerdem Kriegserfahrung! Laßt nicht zu, daß Akbar zerstört wird!« »Was wollt Ihr von mir?« fragte der Stadthauptmann, ohne sein Pferd anzuhalten. »Gestern nacht habe ich einen Boten zu Euch geschickt, damit wir miteinander reden, und mußte mir sagen lassen, Ihr seiet draußen im Tal. Was blieb mir anderes übrig?« »Den Assyrern auf offenem Feld begegnen ist Selbstmord! Ihr wißt das!« Der Kommandant hörte dem Gespräch schweigend zu. Er hatte die Strategie bereits mit dem Stadthauptmann abgesprochen, und der israelitische Prophet würde eine Überraschung erleben.

Elia lief weiter planlos neben den Pferden her.

>Hilf mir, Herr<, flehte Elia bei sich. >Wie Du die Sonne angehalten hast, um Josua in der Schlacht zu helfen, halte die Zeit an und mach, daß ich den Stadthauptmann von seinem Fehler überzeuge.< Genau in diesem Augenblick brüllte der Kommandant: »Halt!« »Vielleicht ist dies ein Zeichen«, sagte sich Elia. »Ich muß es nutzen.« Die Soldaten bildeten zwei Schlachtreihen, die Menschenmauern glichen. Die Schilde wurden fest auf den Boden gestützt, und die Waffen wiesen nach vorn.

»Ihr meint, Ihr seht das Heer von Akbar«, sagte der Stadthauptmann zu Elia.

»Ich sehe junge Männer, die im Angesicht des Todes lachen«, war die Antwort.

»Das hier ist aber nur ein Bataillon. Der größte Teil unserer Männer ist in der Stadt auf den Mauern. Wir haben dort Kessel mit kochendem Öl, das auf jeden gegossen wird, der hochzuklettern versucht.

Wir haben Nahrungsmittel in verschiedenen Häusern gelagert, um zu verhindern, daß Brandpfeile unsere ganze Nahrung vernichten. Nach den Berechnungen des Kommandanten könnten wir der Belagerung fast zwei Monate standhalten. Die Assyrer haben sich vorbereitet, wir aber auch.« »Ihr habt es mir nie erzählt«, sagte Elia.

»Vergeßt nicht, auch wenn Ihr dem Volk von Akbar geholfen habt, so seid Ihr doch ein Fremder, und einige Militärs vermuten, Ihr seiet ein Spion.« »Aber Ihr wolltet doch Frieden?« »Der Friede ist immer noch möglich, auch nach dem Beginn der Schlacht. Nur verhandeln wir dann von gleich zu gleich.« Der Stadthauptmann erzählte, daß Boten nach Tyrus und Sidon geschickt worden waren, um diese über den Ernst der Lage zu unterrichten. Hilfe anfordern konnte er nicht, wenn er nicht als unfähiger Wicht dastehen wollte. Trotzdem hatte er keine andere Wahl. Der Kommandant hatte einen genialen Plan ausgeheckt: Sofort nach Schlachtbeginn werde er selbst in die Stadt zurückkehren und dort den Widerstand organisieren. Die Truppe, die jetzt im Feld stand, sollte so viele Feinde wie möglich töten und sich dann in die Berge zurückziehen. Sie kannten das Tal so gut wie niemand sonst und konnten die Assyrer immer wieder aus dem Hinterhalt angreifen und so den Druck der Belagerung mildern.

Bald schon würde Hilfe kommen, und das assyrische Heer würde vernichtet werden. »Wir können siebzig Tage standhalten, doch so weit wird es nicht kommen«, sagte der Stadthauptmann zu Elia.

»Doch viele werden sterben.« »Wir stehen alle im Angesicht des Todes. Und niemand hat Angst, auch ich nicht.« Der Stadthauptmann konnte seinen eigenen Mut nicht fassen.

Er war nie in einer Schlacht gewesen, und je näher der Kampf rückte, desto öfter trug er sich mit dem Gedanken, aus der Stadt zu fliehen. An jenem Morgen hatte er mit seinen Getreuen den Rückzug geplant. Nach Tyrus oder Sidon konnte er nicht, weil er sonst als Verräter dastand, doch Isebel würde ihn aufnehmen, da sie vertrauenswürdige Männer an ihrer Seite brauchte.

Dennoch, als er das Schlachtfeld betrat, sah er in den Augen der Soldaten eine unendliche Freude – als hätten sie das ganze Leben lang nur für diese Stunde trainiert.

»Die Angst besteht bis zu dem Augenblick, in dem das Unabwendbare geschieht«, sagte er zu Elia. »Danach gilt es nur noch, die Kräfte beisammenzuhalten.« Elia war verwirrt. Er fühlte dasselbe, wenn er sich auch dafür schämte; er mußte an den Jungen denken, wie fasziniert er die Truppe angesehen hatte.

»Geht«, sagte der Stadthauptmann. »Ihr seid ein wehrloser Fremder und braucht nicht für etwas zu kämpfen, woran Ihr nicht glaubt.« Elia rührte sich nicht.

»Sie werden kommen«, sagte der Kommandant. »Ihr mögt überrascht sein, doch wir sind vorbereitet.« Elia rührte sich nicht von der Stelle.

Sie blickten zum Horizont. Nicht der kleinste Staubwirbel, das assyrische Heer verharrte unbeweglich.

Die Soldaten in der ersten Reihe hielten ihre Lanzen fest in der Hand. Die Bogenschützen hatten die Sehnen halb gespannt, um die Pfeile sofort abzuschießen, wenn der Kommandant den Befehl dazu gab. Einige der Männer hieben mit dem Schwert in die Luft, um die Muskeln warm zu halten.


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