Das Unglück hat uns ein gemeinsames Gefühl gebracht: die Verzweiflung. Warum? Weil wir glaubten, daß in unserer Seele bereits die Antwort auf alles vorhanden, daß alles geregelt war und wir keine Art von Veränderung annehmen könnten.

Ihr und ich, wir stammen aus Handelsnationen, doch wir wissen auch, wie wir als Krieger handeln müssen«, fuhr er fort. »Und ein Krieger weiß immer, worum es sich zu kämpfen lohnt. Er zieht in keinen Kampf, an dem er kein Interesse hat, und verliert seine Zeit nicht mit Provokationen.

Ein Krieger akzeptiert die Niederlage. Er behandelt sie nicht so, als wäre sie keine, versucht aber auch nicht, sie in einen Sieg umzumünzen. Er ist bitter gekränkt, und die Gleichgültigkeit und die Einsamkeit lassen ihn schier verzweifeln. Doch danach leckt er seine Wunden, rappelt sich auf und fängt von vorn an. Ein Krieger weiß, daß der Krieg aus vielen Schlachten besteht. Und schaut nach vorn.

Unglück geschieht. Wir können uns hintersinnen und nach Gründen suchen, warum es geschehen ist, wir können anderen die Schuld daran geben, uns vorstellen, wie unser Leben sonst verlaufen wäre. Doch all dies ist müßig: Es ist nun einmal geschehen. Von nun an müssen wir die Angst vergessen, die das Unglück in uns auslöste, und mit dem Wiederaufbau beginnen.

Jeder von euch wird sich von jetzt an einen neuen Namen geben. Dies wird der heilige Name sein, der alles zusammenfaßt, für das zu kämpfen ihr träumt. Ich habe den Namen Befreiung gewählt.« Schweigen breitete sich über den Platz. Dann erhob sich die Frau, die Elia als erste geholfen hatte.

»Mein Name ist Wiederbegegnung«, sagte sie.

»Mein Name ist Weisheit«, sagte ein Alter.

Der Sohn der Witwe, die Elia so sehr geliebt hatte, rief: »Mein Name ist Alphabet.« Die Leute auf dem Platz brachen in Gelächter aus. Der Junge setzte sich beschämt.

»Wie kann jemand Alphabet heißen?« rief ein anderer Junge.

Elia hätte eingreifen können, doch es war besser, der Junge lernte frühzeitig, sich selbst zu verteidigen.

»Weil es das war, was meine Mutter machte«, sagte der Junge.

»Immer wenn ich gezeichnete Buchstaben sehe, werde ich an sie denken.« Diesmal lachte keiner. Einer nach dem anderen nannten die Waisen, die Witwen und die Alten von Akbar ihren Namen und ihre neue Identität. Als die Zeremonie vorüber war, forderte Elia alle auf, früh schlafen zu gehen, weil sie am nächsten Morgen wieder viel Arbeit erwartete.

Dann nahm er den Jungen bei der Hand, und sie gingen zu der Stelle auf dem Platz, wo sie aus einigen Stoffbahnen ein behelfsmäßiges Zelt aufgespannt hatten. An diesem Abend begann Elia den Jungen die Schrift von Byblos zu lehren.

Aus Tagen wurden Wochen, und Akbar veränderte sein Gesicht. Der Junge lernte schnell, die Buchstaben zu malen, und bald konnte er schon Wörter bilden, die einen Sinn ergaben. Elia beauftragte ihn damit, die Geschichte des Wiederaufbaus der Stadt auf Tontäfelchen zu schreiben.

Die Tontafeln wurden in einem improvisierten Ofen zu Keramik gebrannt und sorgfältig von einem alten Ehepaar archiviert. Bei den allabendlichen Versammlungen bat er die Alten, aus ihrer Kindheit zu erzählen, und zeichnete so viele Geschichten wie möglich auf.

»Wir werden die Erinnerung Akbars auf einem Material bewahren, das das Feuer nicht zerstören kann«, erklärte er.

»Unsere Kinder und Enkelkinder sollen erfahren, daß wir die Niederlage nicht akzeptiert und das Unabwendbare überwunden haben, und sich an uns ein Beispiel nehmen.« Jeden Abend, nach dem Alphabet-Unterricht, wanderte Elia durch die leere Stadt, bis dahin, wo die Straße nach Jerusalem begann; es drängte ihn fortzugehen, doch er schob es immer wieder auf.

Die schwere Verantwortung zwang ihn, sich ganz auf die Gegenwart zu konzentrieren.

Er wußte, daß die Bewohner von Akbar auf ihn zählten. Er hatte sie einmal enttäuscht, als er unfähig gewesen war, den Tod des Spions – und den Krieg – zu verhindern. Doch Gott gibt seinen Kindern immer eine zweite Chance, und die mußte er ergreifen.

Der Junge wuchs ihm immer mehr ans Herz, und so brachte er ihm nicht nur die Buchstaben von Byblos bei, sondern auch den Glauben an den Herrn und das Wissen seiner Vorväter.

Dabei vergaß er nicht, daß in seinem Land eine fremde Prinzessin und fremde Götter herrschten. Es gab keine Engel mit Flammenschwertern mehr. Er war frei, aufzubrechen, wann er wollte, und zu handeln, wie er es für richtig hielt.

Jede Nacht war er drauf und dran fortzugehen. Und jede Nacht hob er die Hände zum Himmel und betete: »Jakob hat eine ganze Nacht gerungen und wurde in der Morgenröte gesegnet. Ich habe tagelang, monatelang gegen Dich gekämpft, und Du weigerst Dich, mich anzuhören. Wenn Du aber um Dich blickst, wirst Du sehen, daß ich siege: Akbar ersteht aus den Ruinen, und ich baue das wieder auf, was Du, indem Du die Schwerter der Assyrer benutztest, zu Staub und Asche gemacht hast.

Ich werde mit Dir kämpfen, bis Du mich und die Früchte meiner Arbeit segnest. Eines Tages wirst Du mir antworten müssen.« Frauen und Kinder schleppten Wasser auf die Felder und kämpften gegen die Dürre, die nicht aufzuhören schien. Eines Tages, als die unbarmherzige Sonne voller Kraft herniederbrannte, hörte Elia jemanden sagen: »Wir arbeiten ohne Unterlaß, wir erinnern uns nicht mehr an den Schmerz jener Nacht, wir haben sogar vergessen, daß die Assyrer wiederkommen werden, sobald sie Tyrus, Sidon, Byblos und ganz Phönizien geplündert haben. Das hat uns gut getan. Doch weil wir uns so sehr auf den Wiederaufbau der Stadt konzentrieren, sehen wir keine Veränderung. Wir sehen das Ergebnis unserer Mühen nicht.« Elia dachte über diese Bemerkung nach. Und forderte dann alle auf, sich allabendlich am Fuße des Fünften Bergs zu versammeln, um nach dem langen Arbeitstag gemeinsam den Sonnenuntergang zu betrachten.

Sie waren zumeist so müde, daß sie kein Wort miteinander wechselten. Doch sie entdeckten, wie wichtig es war, die Gedanken ziellos schweifen zu lassen, wie die Wolken am Himmel. So flohen Angst und Beklemmung aus den Herzen aller, und sie fanden wieder Mut und Kraft für den kommenden Tag.

Als Elia erwachte, verkündete er, daß er heute nicht arbeiten würde.

»Heute wird in meinem Land der Vergebungstag gefeiert.« »In Eurer Seele ist keine Sünde«, meinte eine Frau. »Ihr habt das Bestmögliche getan.« »Aber die Tradition verlangt es so. Und ich werde ihr nachkommen.« Die Frauen brachen auf, um Wasser auf die Felder zu bringen, die Alten kehrten zu ihrer Arbeit zurück, die Mauern wieder aufzurichten und die hölzernen Tür- und Fensterrahmen zu bearbeiten. Die Kinder formten kleine Tonziegel, die später gebrannt werden würden. Elia sah ihnen dabei zu und spürte eine unendliche Freude in seinem Herzen. Dann verließ er Akbar und machte sich auf ins Tal.

Dort wanderte er ziellos und sprach die Gebete, die er als Kind gelernt hatte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und von dort, wo er sich befand, sah er den riesigen Schatten des Fünften Bergs über einem Teil des Tales liegen. Er hatte eine furchtbare Vorahnung: Der Kampf zwischen dem Gott Israels und dem Gott der Phönizier würde sich noch über viele Generationen und viele Jahrhunderte hinziehen.

Er erinnerte sich, wie er an dem Abend auf den Gipfel des Berges gestiegen war und mit dem Engel gesprochen hatte.

Seit Akbars Zerstörung hatte er nie wieder die Stimmen gehört, die vom Himmel kamen.

»Herr, heute ist Vergebungstag, und ich habe eine lange Liste von Sünden gegen Dich«, sagte er, indem er sich nach Jerusalem wandte. »Ich war schwach, weil ich meine eigene Kraft vergessen hatte. Ich war mitleidig, als ich hart sein mußte.

Ich habe keine Wahl getroffen, weil ich mich vor falschen Entscheidungen fürchtete. Ich habe zu früh aufgegeben und habe Dich gelästert, als ich Dir hätte danken sollen.

Dennoch, Herr, habe ich auch eine lange Liste Deiner Sünden mir gegenüber. Du hast mich über die Maßen leiden lassen, indem Du einen Menschen von dieser Welt nahmst, den ich liebte. Du hast die Stadt zerstört, die mich beherbergte, Du hast meine Suche vereitelt, mir mit Deiner Härte beinahe meine Liebe zu Dir ausgetrieben. Diese ganze Zeit habe ich mit Dir gekämpft, und Du nimmst die Würde meines Kampfes nicht an.


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