»Ich möchte allein hinausgehen«, sagte er.
Er stand langsam auf und begann zum Wohnzimmer zu gehen.
Doch nach wenigen Schritten fiel er wie vom Blitz getroffen zu Boden.
Elia und die Witwe eilten zu ihm. Der Junge war tot.
Eine Weile blieben beide still. Dann fing die Frau an laut zu schreien.
»Verflucht seien die Götter, verflucht seien die, die die Seele meines Sohnes genommen haben! Verflucht sei der Mann, der das Unheil über mein Haus gebracht hat. Weil ich den Willen des Himmels befolgte und einen Fremden großzügig aufnahm, mußte mein Sohn sterben!« Die Nachbarn hörten die Klagen der Witwe und sahen ihren Sohn auf dem Boden des Hauses liegen. Die Frau wehklagte weiter, schlug den israelitischen Propheten, der neben ihr stand, mit den Fäusten. Er aber reagierte nicht und wehrte sich nicht. Während die Frauen versuchten, die Witwe zu beruhigen, packten die Männer Elia und schleppten ihn vor den Stadthauptmann.
»Dieser Mann hat Großzügigkeit mit Haß vergolten. Er hat einen bösen Zauber auf das Haus der Witwe gelegt, und ihr Sohn ist gestorben. Wir beherbergen jemanden, der von den Göttern verflucht ist.« Elia weinte. »Herr, mein Gott«, haderte er, »willst Du selbst meiner Gastgeberin so böse, daß Du ihren Sohn tötest? Du hast ihren Sohn getötet, weil ich die Mission, die mir aufgetragen wurde, nicht erfüllt habe und den Tod verdiene.« Am selben Abend noch versammelte sich der Stadtrat von Akbar unter dem Vorsitz des Priesters und des Stadthauptmanns. Elia wurde vor das Gericht geführt.
»Ihr habt Liebe mit Haß vergolten. Deshalb verurteile ich Euch zum Tode«, sagte der Stadthauptmann.
»Auch wenn sein Kopf einen Sack Gold wert ist, dürfen wir den Zorn der Götter des Fünften Berges nicht erwecken«, sagte der Priester. »Denn sonst kann kein Gott der Welt dieser Stadt den Frieden wiedergeben.« Elia senkte das Haupt. Er verdiente das viele Leid, ertrug es, denn der Herr hatte ihn verlassen.
»Ihr werdet auf den Fünften Berg steigen«, sagte der Priester.
»Dort werdet Ihr die erzürnten Götter um Vergebung bitten. Sie werden das Feuer des Himmels auf Euch herabsenden und Euch töten. Tun sie es nicht, so ist es ihr Wille, daß die Gerechtigkeit durch uns wiederhergestellt werde. Wir werden am Fuß des Berges auf Euch warten und Euch morgen hinrichten.« Elia kannte die rituellen Hinrichtungen sehr wohl: Dem Verurteilten wurde das Herz aus dem Leib gerissen und der Kopf abgeschlagen. Nach phönizischem Glauben kam ein Mensch ohne Herz nicht ins Paradies.
»Warum hast Du mich hierzu auserwählt, Herr?« rief Elia laut, weil die Menschen um ihn herum nicht verstehen konnten, wofür Gott ihn bestimmt hatte. »Siehst Du denn nicht, daß ich unfähig bin zu erfüllen, was Du verlangt hast.« Doch er erhielt keine Antwort.
Die Männer und Frauen von Akbar zogen hinter der Gruppe der Wachsoldaten her, die den Israeliten zum Fünften Berg brachten. Sie beschimpften ihn laut und bewarfen ihn mit Steinen. Die Soldaten konnten die zornige Menge nur mit Mühe in Schach halten. Nach einer halben Stunde Fußmarsch gelangten sie an den Fuß des Berges.
Die Gruppe blieb vor den steinernen Altären stehen, wo sonst die Opfergaben dargebracht und die Gebete gesprochen wurden. Alle wußten von den legendären Riesen, die an diesem Ort lebten und die alle, die gegen das Gesetz verstoßen hatten, mit dem Feuer des Himmels bestraften. Reisende, die nachts durch das Tal kamen, wollten das Gelächter der Götter und Göttinnen gehört haben, und darum wagte keiner, den Göttern zu trotzen.
»Los jetzt«, sagte ein Soldat und schubste Elia mit der Spitze seiner Lanze an. »Wer ein Kind tötet, verdient die schlimmste aller Strafen.« Elia betrat das verbotene Gelände und begann den Hang hinaufzusteigen. Nachdem er eine Weile gewandert war, konnte er das Geschrei der Leute von Akbar nicht mehr hören.
Er setzte sich auf einen Stein und weinte: Seit jenem Nachmittag in der Tischlerwerkstatt, als er die von glänzenden Lichtpunkten durchflirrte Dunkelheit sah, hatte er nur Unglück über andere gebracht.
Der Herr hatte seine Fürsprecher in Israel verloren, und die phönizischen Götter hatten sich durchgesetzt. In seiner ersten Nacht am Bach Krith hatte Elia gedacht, Gott habe auch ihn, wie viele Propheten vor ihm, dazu auserwählt, ein Märtyrer zu werden.
Aber der Herr hatte einen Raben – einen weissagenden Vogel – geschickt, der Elia ernährte, bis der Bach Krith ausgetrocknet war. Warum Raben und keine Taube oder einen Engel? Oder war dies alles am Ende nur eine Wahnvorstellung von jemandem, der zu lange in der Sonne gewesen war oder sich seine Angst nicht eingestehen wollte? Elia besaß jetzt keine Gewißheiten mehr: Vielleicht hatte das Böse sein Werkzeug gefunden – und er war dieses Werkzeug. Warum hatte ihn Gott nach Akbar geschickt anstatt zurück nach Israel, um der Prinzessin ein Ende zu bereiten, die seinem Volk so viel Leid zufügte.
Er hatte gehorcht, obschon er sich dabei feige vorgekommen war. Er hatte gekämpft, um sich an dieses fremde freundliche Volk und seine vollkommen andere Kultur anzupassen. Gerade als er meinte, sein Schicksal erfüllt zu haben, war der Sohn der Witwe gestorben.
»Warum ich?« Er erhob sich, wanderte weiter, bis er in den Nebel kam, der den Gipfel des Berges bedeckte. Er könnte die schlechte Sicht ausnutzen und seinen Verfolgern entwischen, doch wozu? Er war es leid zu fliehen, er wußte, daß er nirgends in der Welt heimisch werden würde. Selbst wenn ihm die Flucht jetzt gelänge, den Fluch würde er dadurch nicht los, er würde ihn begleiten, und in anderen Städten würde es andere Tragödien geben. Er würde den Schatten dieser Toten mit sich tragen, wohin er auch ginge. Es war besser, daß man ihm das Herz aus dem Leibe riß, seinen Kopf abschlug.
Er setzte sich abermals nieder, diesmal mitten im Nebel. Er hatte beschlossen, etwas zu warten, damit die Leute unten dachten, daß er bis zum Gipfel des Berges hinaufgestiegen sei.
Anschließend würde er nach Akbar zurückkehren und sich seinen Häschern stellen.
»Das Feuer des Himmels.« Vielen Menschen hatte es schon den Tod gebracht, obwohl Elia bezweifelte, daß es vom Herrn geschickt war. In mondlosen Nächten irrlichterte es am Firmament, blitzte auf und verschwand plötzlich wieder.
Vielleicht verbrannte es. Vielleicht tötete es sofort, schmerzlos.
Die Nacht brach herein, und der Nebel hob sich. Er konnte ins Tal hinunter sehen, zu den Lichtern von Akbar und den assyrischen Lagerfeuern; er hörte Hundegebell und die Kriegsgesänge der Soldaten.
»Ich bin bereit«, sagte er zu sich selbst. »Ich habe akzeptiert, ein Prophet zu sein, und habe mein Bestes gegeben… Doch ich habe versagt, und jetzt braucht Gott einen anderen.« In diesem Augenblick kam ein Licht auf ihn hernieder.
»Das Feuer des Himmels!« Das Licht blieb jedoch vor ihm stehen. Und eine Stimme sprach: »Ich bin ein Engel des Herrn.« Elia kniete nieder und berührte mit dem Gesicht die Erde.
»Ich habe Euch schon mehrfach gesehen und habe dem Engel des Herrn gehorcht«, antwortete Elia, ohne den Kopf zu heben.
»Ihr laßt mich Unheil säen, wohin ich komme.« Doch der Engel fuhr fort: »Wenn du in die Stadt zurückkehrst, bitte dreimal, daß der Junge wieder lebendig wird. Beim dritten Mal wird der Herr dich erhören.« »Warum soll ich das tun?« »Um der Größe Gottes willen.« »Auch wenn ich dieses tun würde, so habe ich doch schon an mir selbst gezweifelt. Ich bin meiner Aufgabe nicht würdig«, entgegnete Elia.
»Jeder Mensch hat das Recht, an seiner Aufgabe zu zweifeln und sie hin und wieder aufzugeben; was er allerdings nicht tun darf, ist, sie zu vergessen. Wer nicht an sich selbst zweifelt, ist unwürdig, weil er seiner Fähigkeit blind vertraut und sich aus Stolz versündigt. Gesegnet sei der, der Augenblicke der Unentschlossenheit durchlebt.« »Ihr seht doch selbst, daß ich mir eben noch nicht einmal sicher war, ob Ihr ein Gesandter Gottes seid.« »Geh und tu, was ich dir sage.« Eine geraume Weile verstrich, bis Elia den Berg wieder hinabstieg. Die Wachsoldaten warteten bei den Opferaltären auf ihn, die Menschenmenge aber war nach Akbar zurückgekehrt.