Wieder eine neue Stimme:»Der Strolch kann uns in der Nacht durch die Lappen gegangen sein.»

Der Marinesergeant stampfte mahnend mit seiner Pike auf und befahl:»Schluß jetzt, Jungs! Ich bitte mir Ruhe aus!»

Schon wurden die gekreuzten Brustriemen der Marinesoldaten an den Finknetzen[6] heller, und als Bolitho zur Großmaststenge aufblickte, sah er ihr Topp in fahles Gold getaucht. Wie die Spitze einer Lanze.

Die Ausguckposten oben in den Krähennestern oder den schwankenden Marsen würden das fremde Schiff als erste sehen. Falls es noch da war.

Während der ganzen Nacht hatte Keen die Achates nach Luv geknüppelt, hatte sich mühsam jede Meile mit dichtgeholten Brassen und mit Rahen erkämpft, die beinahe längsschiffs standen: eine fast lückenlose Wand aus Segeltuch und Spieren.

Achates machte ihrem guten Ruf alle Ehre. Sie reagierte willig und ließ sich von Segeln und Ruder anspornen wie ein Vollblüter.

Bolitho lauschte dem Zischen, mit dem die See in Lee an der Bordwand abfloß, und dem gelegentlichen Quietschen einer Stücklafette, deren Taljen die Last zu spüren bekamen.

Vorn östlichen Horizont floß das Tageslicht heran wie goldene Lava, die das Schiff zu verfolgen schien.

«Da ist sie! In Lee voraus!»

Jetzt redeten alle zugleich, und Bolitho sah Keens Zähne aufleuchten, als dieser grinsend dem Segelmeister zunickte.

Die Position, die sie sich erkämpft hatten, war noch günstiger als erwartet. Sie hatten nun den Windvorteil des Luvschiffs und konnten ihn auch halten, falls es zu einer Verfolgungsjagd kam.

Bolitho starrte zu dem fernen Schemen hipüber, der auf dem dunklen Wasser langsam Gestalt annahm.

Mit einem Klicken schob Keen sein Teleskop zusammen.»Doch größer als ein Schiff der fünften Klasse, Mr. Pas — äh, Mr. Bolitho«, sagte er.

Einige der Umstehenden schmunzelten, und Bolitho freute sich wie schon oft, daß er Adam um sich hatte.

Er hörte seinen Neffen zu Keen sagen:»Ganz Ihrer Meinung, Sir. Wahrscheinlich eher ein kurzer Zweidecker.»

Keen trat zu Bolitho heran.»Ihre Befehle, Sir?»

«Wir warten ab. Noch hat er uns nicht bemerkt. Wenn es soweit ist, fordern Sie ihn auf, sich zu identifizieren.»

Unglaublich, daß die Achates ungesehen so nahe herangekommen sein sollte. Das andere Schiff stand jetzt eine knappe Kabellänge[7] an Backbord voraus, so daß sie schon sein weißes Kielwasser unter dem Heck schäumen sahen. Das Brausen des Windes in Achates' durchgesetztem Rigg, das Brummen ihrer Spieren klangen laut genug, um Tote zu erwecken. Aber Bolitho wußte, wie leicht man sich dabei täuschte.

Plötzlich wurden die Geräusche von See und Wind durch ein schrilles Pfeifen drüben übertönt. Er konnte sich die Szene genau vorstellen: ein verschlafener Ausguckposten, der wahrscheinlich Befehl hatte, beim ersten Licht nach Achates in Lee Ausschau zu halten, und unten die müden Wachgänger, die ihre Ablösung und ein warmes Frühstück im Kopf hatten. Das war alles nur zu begreiflich.

Plötzlich Quantocks scharfe Stimme:»Sie setzt die Bramsegel!»

Keen nickte.»Die geben Fersengeld, Sir. Also hatten sie doch nichts Gutes vor.»

Bolitho spürte einen kalten Schauer über den Rücken laufen, als erlebe er das alles zum erstenmal: Triumph, Erregung oder Wahnsinn, wer wollte das beurteilen?

«Sobald es hell genug ist, setzen Sie Ihr Signal ab. Und bis dahin halten Sie ihn an Backbord voraus.»

Keen nickte; die Erregung wirkte ansteckend, wie immer seit seinen Kadettentagen, vor einer Ewigkeit und in einem anderen Erdteil.

«Lassen Sie die Toppgasten aufentern, Mr. Quantock. Wir brauchen mehr Segelfläche.»

Pfeifen schrillten, während schon die ersten Männer zu beiden Seiten in den Webeleinen emporkletterten; beim Aufentern erfaßte sie die fahle Morgensonne und ließ ihre Körper erglühen.

«Noch einen Strich nach Luv. Bemannt die Brassen dort!»

Gischt schoß über Bugspriet und Vorschiff und sprenkelte das Deck wie ein tropischer Regenguß.

Aber auch das andere Schiff hatte mehr Segel gesetzt und schien zügig Distanz zu gewinnen.

Unter Bolithos Füßen erzitterten die Planken, als Achates den Kamm einer See erklomm und ins nächste Wellental krachte. Er spürte die stärkere Zugkraft des zusätzlichen Tuchs und hörte das riesige Großsegel sich donnernd entfalten, sobald die Gordings oben lose kamen.

Bolitho stieg auf eine Lafette und richtete sein Glas auf das Schiff vor ihnen. Es wurde jetzt schnell heller, deshalb konnte er schon das vergoldete Schnitzwerk an Heckgalerie und Poop des Fremden schimmern sehen und den Glanz der rötlichen Morgensonne auf seinen Heckfenstern, als hätten sie Feuer an Bord.

«Kein Franzose«, stellte Keen fest.

«Vielleicht ein Holländer«, überlegte ein anderer.

Aber sie irrten sich alle. Bolitho hatte schon ganz ähnliche Schiffe gesehen und glaubte die Werft zu kennen, wo sie auf Kiel gelegt worden waren.

Er sagte:»Ein Spanier. Ich habe mit seinesgleichen schon manchen Strauß gefochten.»

Niemand antwortete, und Bolitho mußte sich ein Lächeln verkneifen. Ob er nun recht hatte oder nicht, niemand wiedersprach einem Admiral, und wenn er noch so jung war.

Keen nickte.»Und ich stimme dem Flaggleutnant zu, Sir. Sie ist zu groß für eine Fregatte. So, wie sie aussieht, hat sie mindestens fünfzig Kanonen, schätze ich.»

«Signalisieren Sie, sie soll Segel kürzen.»

Bolitho spürte, wie sich um ihn Gleichgültigkeit verbreitete. Die Jagd war vorbei, ehe sie richtig begonnen hatte.

Die Signalflaggen stiegen auf zu ihrer Rah, wo sie knatternd auswehten. Aber die Signalrah drüben blieb leer, nicht einmal das Bestätigungssignal wurde geheißt.

«Sie fällt jetzt ein bißchen ab, Sir.»

Bolitho richtete sein Glas neu aus und glaubte, neben einer der Pooplaternen drüben Sonnenlicht von einer Teleskoplinse reflektieren zu sehen. Achates' Kurswechsel im Schütze der Nacht mußte sie ziemlich überrascht haben.

Keen befahl:»Folgen Sie der Drehung! Neuer Kurs West zu Süd. «Er warf einen Blick auf Bolithos unbewegte Miene,

«Lassen Sie das Signal stehen«, sagte dieser.

Beide Schiffe fuhren nun in Kiellinie, als schleppe der Fremdling Achates an einer unsichtbaren Trosse ab.

Keen schritt ruhelos auf und ab und versuchte, den nächsten Zug des fremden Kommandanten zu erraten. Wenn er weiter nach Lee abdrehte, blieb die Achates im Vorteil. Wenn er aber auf so kurze Distanz nach Luv aufkreuzen wollte, mußte er kostbare Zeit verlieren, und Achates konnte leicht zu ihm aufschließen.

Der Leutnant der Achterwache ließ sein Glas sinken.»Sie bestätigt immer noch nicht, Sir. Dabei sollten sogar die Dons mittlerweile unseren Signalkode kennen!»

Quantock brüllte:»Notieren Sie diese Männer, Sergeant!«Wütend fuchtelte er mit seinem Sprachrohr zu einem Achtzehnpfünder hinüber, dessen Mannschaft ihre Station verlassen hatte, um nach dem fremden Schiff auszuspähen.»Hol mich der Teufel, was fällt denen ein?»

Keen meinte:»Wenn der Wind so bleibt, lasse ich Leesegel setzen… »

Bolitho wischte sich die tränenden Augen und hob abermals das Glas. Achates hielt mit dem Fremdling mit, obwohl dieser die Royals gesetzt hatte, um ihr zu entkommen. Aber der Wind konnte abflauen oder ganz einschlafen. Wenn Achates sie nicht vor Einbruch der Nacht gestellt hatte, würden sie nie erfahren, was da vor sich ging.

Seltsam, das Ganze. Bolitho konzentrierte sich völlig auf die kleine, lautlose Welt in der Linse seines Fernrohrs. Das fremde Schiff trug einen frischen Farbanstrich, als wäre es wie die Achates eben erst aus dem Dock gekommen. Aber auf dem breiten roten Streifen quer übers Heck fehlte der Schiffsname. Entweder war sie überhastet in See gegangen, oder sie wollte ihre Identität verschleiern.

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6

Netze an Schanzkleid oder Reling, in denen die festverzurrten Hängematten der Mannschaft als Kugelfang verstaut wurden

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7

Kabellänge = ein Zehntel einer Seemeile oder 185, 2 m


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