IV Alte Feinde — neue Freunde

«Nordwest zu Nord liegt an, Sir! Immer noch Ruder im Schiff!«Selbst die Stimme des Rudergängers klang gedämpft, als Achates nur unter Bramsegeln und Klüver langsam auf ihren Ankerplatz zukroch.

Die Mittagssonne brannte heiß auf die nackten Schultern der Seeleute herab, die wartend an den Brassen standen oder auf den Rahen ausgelegt hatten. Bis auf die letzten paar Kabellängen war ihre Reise zu Ende.

Bolitho hielt sich etwas abseits von Keen und seinen Offizieren und starrte zu der Küstenlinie hinüber, die im schimmernden Glast langsam Gestalt annahm.

Bei Morgengrauen hatten sie Cape Cod schon querab gehabt, aber dann war die schwache Brise fast eingeschlafen, und es wurde Mittag, ehe sie ans Ankern denken konnten.

Bolitho hob das Glas und studierte die Reede mit ihrem Dickicht aus Masten, Spieren und aufgetuchten Segeln — ein greifbarer Beweis für das Blühen und Gedeihen des Hafens von Boston. Schiffe und Flaggen aller Nationen gaben sich hier ein Stelldichein, Leichter hasteten zwischen ihnen und der Pier hin und her wie Wasserkäfer.

Auch einige Kriegsschiffe lagen hier, konstatierte Bolitho. Zwei amerikanische Fregatten und drei Franzosen, einer davon ein mächtiger Dreidecker, an dessen Besanmast eine Admiralsflagge müde flappte.

Bolitho schwenkte das Glas, bis der Landvorsprung in Sicht kam, der sich ihrem Backbordbug entgegenstreckte. Da war das vielsagende graue Band der Befestigungswälle und hoch darüber die Flagge.

Bolitho machte sich klar, was er empfand und warum sein Mund plötzlich trocken wurde. Es war jetzt neunzehn Jahre her, seit er in diesen Gewässern gesegelt, an dieser Küste gelandet war. In einem anderen Krieg, mit anderen Schiffen. Nun fragte er sich, was sich alles geändert haben mochte und wie er selbst darauf reagieren würde.

Er hörte Keens scharfen Befehl:»Beginnen Sie mit dem Salut, Mr. Braxton!»

Das Krachen der ersten Kanone rollte über die Massachusetts Bay wie eingefangener Donner, während der Pulverrauch auf dem glatten Wasser hing, als hätte er nicht die Kraft, höher zu steigen. Kreischend flatterten Möwen und andere Seevögel von ihren Standplätzen auf, als das Schiff und die Batterie an Land Schuß um Schuß ihre Grüße tauschten.

Bolitho mußte wieder an die Tage denken, die ihrem Gefecht mit dem namenlosen Schiff gefolgt waren. Beschämung und Wut wichen der fieberhaften Entschlossenheit,»eine offene Rechnung zu begleichen«, wie Allday es formuliert hatte. Die Schäden in der Takelage waren schlimmer gewesen als die am Rumpf, und vom Kommandanten bis zum kleinsten Pulverjungen hatten alle ihr Bestes gegeben, um das Schiff zu reparieren, ehe in Boston der Anker fiel.

Eine neue Vormaststenge war an den geschäfteten Mast gelascht worden, laufendes Gut und Segel wurden ersetzt, während ein kräftiger Nordost gutes Vorwärtskommen versprach. Zuletzt hatten Farbe, Pech und Schweiß die Arbeit vollendet.

Der Eifer war ansteckend gewesen; Bolitho hatte die vier Holzattrappen aus seiner Kajüte entfernen und wieder durch die Achtzehn-pfünder ersetzen lassen. Sie raubten ihm zwar Platz, symbolisierten aber seine Entschlossenheit, sich nie wieder mit verhängtem Zügel überraschen zu lassen.

Voraus sah er ein amerikanisches Wachboot bewegungslos über seinem Spiegelbild warten, um das britische Kriegsschiff an den Ankerplatz zu lotsen.

Bolitho beschattete seine Augen und studierte die Küste: weiße Holzhäuser, mehrere Kirchen, Sonnenreflexe auf Fenstern und polierten Kutschen am Kai. Vielleicht beobachtete dort drüben manch einer das langsam herangleitende Schiff und erinnerte sich wieder an die schlimmen Tage der Revolution, an den Krieg, der Bruder gegen Bruder antreten ließ.

«Alles klar, Sir!»

«Dann stellt sie in den Wind«, antwortete Keen.

«An die Lee-Brassen! Fiert weg«, kam Quantocks prompter Befehl. Bolitho blickte zum Großbramsegel auf. Die Brise reichte kaum aus, es killen zu lassen. Noch ein oder zwei Minuten, und sie hätten in einer Totenflaute gelegen.

«An die Bramsegelschoten!«Quantock beugte sich weit über die Querreling und schwenkte sein Sprachrohr von einer Seite zur anderen, während er seine Männer hoch oben in der Takelage nicht aus den Augen ließ.»Klar bei Geitauen!»

«Leeruder!«kam Keens Anweisung.

Zögernd drehte Achates in den einschlafenden Wind, das weiße Ge-kräusel vor ihrem Steven verschwand mit dem letzten bißchen Fahrt.»Laß fallen Anker!»

Keen war schon auf der anderen Seite des Decks, noch ehe der schwere Anker gefaßt hatte.

«Und jetzt die Sonnensegel und Persennings, Mr. Quantock! Ein bißchen lebhaft! Da vorn sind heute alle Gläser auf uns gerichtet.»

Bolitho biß sich auf die Lippen. Keen war nervös, er grübelte länger als jeder andere an Bord immer noch über ihr kurzes Duell mit dem geheimnisvollen Schiff.

An dem Tag hatten sie zwei Männer verloren. Der eine war ertrunken, der andere von Wrackteilen erschlagen worden. Aber an Keen fraß noch etwas anderes, denn schließlich lebte ein Seemann immer riskant. Durch Unfälle an Bord oder im Kampf mit See und Wind starben mehr Männer als unter Feindbeschuß.

Doch Keen nahm es schwer. Trotz seiner Erfahrung und unbestritten klugen Kampftaktik machte er sich wegen seiner falschen Lagebeurteilung Vorwürfe. Oder verschärfte die Tatsache, daß er Bolithos Flaggkapitän war, so sehr die Anforderungen, die er an sich stellte?

Bolitho war selbst mehrfach als Flaggkapitän gefahren und konnte nachempfinden, was Keen durchmachte. Damals war er dankbar gewesen, als sein Admiral ihn in Ruhe gelassen und ihm Gelegenheit gegeben hatte, seinen Fehler wieder gutzumachen. Ganz gewiß sollte Keen die gleiche Chance von ihm bekommen.

Sanft schwojte Achates an ihrer Ankertrosse, während an Deck alle Mann wie besessen arbeiteten, um die Boote auszuschwenken und die Sonnensegel aufzuspannen, die die Mittagsglut etwas erträglicher machen würden.

Bolitho sah Knocker seine Rudergänger unter Deck entlassen. Dann studierte er die Berechnungen auf der Schiefertafel neben dem Kompaß, die ein Kadett angestellt hatte. Dabei rieb er sich nachdenklich das kräftige Kinn.

Knocker hatte guten Grund, mit sich zufrieden zu sein, überlegte Bolitho. Trotz allem hatte Achates die Reise von Hampshire nach Boston in der Rekordzeit von nur sechzehn Tagen geschafft. Für einen leichten Zweidecker, der unterwegs auch noch Reparaturen ausführen mußte, war das keine schlechte Leistung. Bolitho wollte dem griesgrämigen Segelmeister dafür seine Glückwünsche aussprechen, doch da war er bereits im Kartenraum verschwunden.

Also trat er statt dessen an die Webeleinen und blickte zu den einheimischen Booten hinunter, die den Neuankömmling schon zu umkreisen begannen. Er sah gebräunte Gesichter, farbenfrohe Gewänder und viele neugierige Blicke. In Boston war man an Schiffe aller mö glichen Nationalitäten gewöhnt, aber seit dem Krieg hatten nicht viele britische Kriegsschiffe hier Anker geworfen.

Bolitho hörte Schritte an Deck und sah seinen Neffen mit einem Packen Dokumenten unter dem Arm herantreten.

«Aha, du nimmst deine Aufgabe also ziemlich ernst, Adam.»

Der schwarzhaarige Leutnant lächelte.»Aye, Sir. Aber ich verzichte gern auf jede Beförderung, wenn ich dafür dieses Schiff verlassen müßte.»

Bolitho hatte Verständnis für seine gute Laune. Zwar erwähnten beide kaum je Bolithos großzügige Geste, die sie noch enger verbunden hatte, aber Adam suchte an manchen Abenden, die er bei seinem Alter sicher lieber unter seinesgleichen in der Messe verbracht hätte, Bolithos Nähe, um ihm die Zeit und die trüben Gedanken an Belinda zu vertreiben. Wäre Bolitho noch Kommandant gewesen, hätten ihn die Reparaturen und anderen Anforderungen nicht zum Nachdenken kommen lassen; aber so blieb ihm während der Reise zu viel freie Zeit, nur mit Allday oder seinem Steward als Gesprächspartner. Da waren ihm Adams Besuche hochwillkommen gewesen.


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