Bolitho blickte sich um.»Haben wir eine französische Flagge? Die neue, meine ich.»

Mehrfaches Kopfschütteln.

Bolitho suchte mit den Augen den grauhaarigen Segelmacher.»Schön, Mr. Buckle, Sie haben dreißig Minuten, um eine anzufertigen. Also fangen Sie an!»

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich an den Stückmeister der Hyperion. »Mr. Pearse, Sie können sofort mit dem Verladen der Karronade beginnen. Suchen Sie eine gute Mannschaft aus und nehmen Sie das Boot, das Ihnen am geeignetsten scheint.»

Er blickte ihm nach, der hinter dem Segelmacher die Kajüte verließ, und fuhr gelassen fort:»Bei unserem letzten Angriff waren wir minutenlang durch eine Landzunge vor der Batterie gedeckt. Wenn wir unser Schiff auf dem gleichen Kurs halten wie damals, wird der Gegner wahrscheinlich schnell ein paar Geschütze von der anderen Seite so verlegen, daß er besser feuern kann. Inzwischen werden sie ziemlich selbstsicher sein und voraussetzen, daß wir nicht direkt vor ihre Kanonen segeln. Dadurch bekommt die Schaluppe sogar noch bessere Chancen.»

Erregtes Gemurmel. Das war zumindest ein Plan. Allerdings gab es noch vieles zu klären und zu erklären. Aber ein Plan war es immerhin.

«Also schön, meine Herren, Sie können gehen. Fangen Sie an. Ich komme gleich an Deck und kümmere mich selbst um die erste Phase.»

Als sie die Kajüte verließen, wandte sich Bolitho nochmals Lieutenant Bellamy zu. Von diesem hatte er irgendeine Äußerung, vielleicht sogar Protest erwartet; aber Bellamy hatte nichts gesagt, und Bolitho war keineswegs sicher, daß er auch nur die Hälfte von dem begriffen hatte, was da auf ihn zukam.

«Danke sehr, Bellamy«, sagte er.»Sie waren mir eine große Hilfe.»

Der Leutnant starrte ihn an und schluckte.»Tatsächlich?«Er schluckte nochmals.»Äh — vielen Dank, Sir. «Bolitho folgte ihm an Deck und sah ihm nach, wie er unsicheren

Schrittes zur Fallreepspforte ging. Dann atmete er ganz langsam aus. Da hatte er sich allerhand geleistet, wirklich! Er hatte Lord Hood nicht gemeldet, daß das Unternehmen Cozar gescheitert war. Er hatte sich den Oberbefehl über eine Aktion angemaßt, die verlustreich und katastrophal enden konnte. Er hatte sogar eine Depeschen und Post befördernde Schaluppe widerrechtlich angehalten, für seine Zwecke eingesetzt und wahrscheinlich der Vernichtung preisgegeben.

Er blickte zum Masttopp auf und sah, daß der Wimpel sich hob und in der auffrischenden Brise flatterte. Wenn es davor noch irgendein Argument gegen diese Aktion gegeben hätte — jetzt gab es keines mehr. Die Konsequenz seiner ersten Anweisungen machte jeden Widerruf unmöglich. Zweifeln hatte jetzt keinen Sinn mehr. Bolitho ging zur Wetterseite hinüber und schritt dort in tiefer Konzentration auf und ab.

Mit einem heftigen Ruck erwachte Bolitho und starrte sekundenlang zu Allday hoch, der, einen schweren Krug in der Hand, über ihn gebeugt stand.

«Tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, Captain«, sagte er mit seiner gelassenen Stimme,»aber es wird schon hell. «Er hob den Krug und goß den heißen Trank ein, während Bolitho seine Gedanken sammelte und sich in der winzigen Kajüte der Schaluppe umsah. Oberhalb des Sessels, in dem er tief erschöpft eingeschlafen war, konnte er das bleiche Rechteck des Skylights sehen; und in der plötzlichen Erkenntnis des Kommenden erstarrte er in seinem Sessel wie ein Mann, der aus einem Alptraum aufschreckt und feststellen muß, daß sein Traum Wirklichkeit ist.

Der heiße bittere Kaffee rann ihm angenehm durch den Magen.»Wie ist der Wind?»

Allday hob die Schultern.»Schwach, aber stetig, Captain. Immer noch aus Nordwest.»

«Gut. «Er stand auf und fluchte, denn er war mit dem Kopf gegen den niederen Decksbalken gestoßen. Allday verkniff sich ein Grinsen.»Nicht viel los mit diesem Schiff, wie, Captain?»

Bolitho rieb sich die Arme, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen, und entgegnete kühl:»Mein erstes Kommando war auch eine Schaluppe, Allday. Kaum anders als diese. «Dann lächelte er resigniert.»Aber Sie haben recht. So ein Fahrzeug ist nur für sehr junge oder sehr kleine Leute.»

Die Tür öffnete sich, und Leutnant Bellamy steckte den Kopf herein.»Aha, Sie sind schon geweckt worden, Sir. «Er grinste.»Schönes Wetter für uns!»

Bolitho musterte ihn verwundert. Erstaunlich, wie sich Bellamy für diesen Plan engagiert hatte! Wenn etwas schiefging, würde er allerhand zu erklären haben. In der Marine konnte man sich nicht immer damit herausreden, daß man nur Befehle ausgeführt hätte.

Gebückt folgte ihm Bolitho über die kurze Leiter auf das Achterdeck. Es war sehr kühl; das bleiche Frühlicht schien über Wolkenfetzen und kabbelige See. Erschauernd dachte er sehnsüchtig an seinen Uniformrock. Aber wie die anderen hatte er alles weggelassen, was ein aufmerksamer feindlicher Wachtposten sehen und identifizieren konnte.

Bellamy deutete nach Backbord voraus.»Cozar liegt dort drüben, etwa fünf Meilen entfernt, Sir. Jetzt ist es bald soweit.»

Bolitho ging zur Heckreling und spähte angestrengt achteraus. Er spürte die stetige Brise auf der Haut, doch von der Hyperion war noch nichts zu sehen. Langsam trat er zu dem ungeschützten Ruderrad. In der Stille klangen seine Schuhsohlen merkwürdig laut auf den Planken.

Nochmals überdachte er die vergangenen hektischen Stunden und suchte nach einem Fehler in seinem Plan. Quarme war sichtlich enttäuscht gewesen, als er ihm das Kommando über die Hyperion übertrug. Selbst Bolithos geduldige Erläuterungen hatten seine Stimmung nicht heben können. Eines war sicher: wenn sich die Franzosen nicht täuschen ließen oder wenn die Schaluppe überwältigt wurde, bevor sie am Pier war, würde keiner an Bord überleben. Es war Bolithos Plan, also trug er auch persönlich das Risiko. Indessen konnte er auch Quarme verstehen. Quarme war Berufsoffizier; er hatte nur wenig Geld und keine einflußreichen Verwandten, die seine Karriere fördern konnten. Seine Beförderung hing davon ab, daß er ein Enterkommando oder ein so gewagtes Unternehmen wie dieses hier führte. Andere avancierten durch Tod oder Beförderung ihrer Vorgesetzten. Vielleicht hatte Quarme schon darauf spekuliert, daß er durch Kapitän Turners plötzliches Ableben ein Stück weiterkam.

Aber wenn auf Cozar alles schiefging, brauchte die Hyperion einen guten, vernünftigen Mann als Kommandanten, und Quarme hatte bewiesen, daß er durchaus fähig war, das Schiff zu führen.

«Die Kimm wird klarer, Sir«, sagte Bellamy aufgeregt und zerrte an seiner Uhr.»Mein Gott, dieses Warten!»

Tatsächlich wurde es heller. Bolitho konnte schon das Oberdeck der Schaluppe und den Bugspriet sehen, der wie ein schwarzer Finger in den bleichen Himmel stach.

Hätte das kleine Fahrzeug nicht so verzögert auf Ruder und Wind reagiert, hätte man sich nur schwer vorstellen können, daß sich unter Deck sämtliche Marine-Infanteristen Hauptmann Ashbys und außerdem fünfzig Matrosen der Hyperion drängten, und daß noch weitere fünfzig, unbequem unter einer Persenning verborgen, an Deck hockten. Es war ein Glück, daß Bellamy bereits knapp an Leuten gewesen war, aber trotzdem wurde jeder Kubikzoll Stauraum und das ganze Logisdeck gebraucht, um die Männer unterzubringen.

Die Matrosen der Chanticleer saßen oder standen an der Schanz herum, sprachen kaum und warteten darauf, jeden Fetzen Leinwand zu setzen, sobald der Befehl kam.

Flüchtig schoß Bolitho die schreckliche Möglichkeit durch den Kopf, daß Quarme es nicht schaffen würde, rechtzeitig zur Stelle zu sein. Die ganze Nacht hindurch war die Schaluppe weit vorausgesegelt, damit nicht etwa ein spionierendes Fischerboot oder ein Küstensegler sie im Geleit fahren sah, womit die einzige Erfolgschance ruiniert gewesen wäre, ehe die Aktion überhaupt begonnen hatte.

Er musterte die Steuerbordbatterie. Die Schaluppe war mit achtzehn leichten Geschützen armiert, deren Breitseite an dieser mächtigen Festung kaum einen Kratzer verursachen würde.


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