Frank Schätzing

Der Schwarm

hishuk ish ts’awalk

Stamm der Nuu-Chah-Nulth, Vancouver Island

Prolog

14. Januar

Huanchaco, peruanische Küste

An jenem Mittwoch erfüllte sich das Schicksal von Juan Narciso Ucañan, ohne dass die Welt Notiz davon nahm.

In einem höheren Kontext tat sie es durchaus, nur wenige Wochen später, ohne dass jemals Ucañans Name fiel. Er war einfach einer von zu vielen. Hätte man ihn unmittelbar befragen können, was am frühen Morgen jenes Tages geschah, wären wohl Parallelen zu ganz ähnlichen Geschehnissen offenbar geworden, die sich zeitgleich rund um den Globus ereigneten. Und möglicherweise hätte die Einschätzung des Fischers, eben weil sie seiner unbedarften Weltsicht entsprang, eine Reihe komplexer Zusammenhänge enthüllt, die so erst später augenscheinlich wurden. Aber weder Juan Narciso Ucañan noch der Pazifische Ozean vor der Küste Huanchacos im peruanischen Norden gab etwas preis. Ucañan blieb stumm wie die Fische, die er sein Lebtag gefangen hatte. Als man ihm schließlich in einer Statistik wiederbegegnete, waren die Ereignisse bereits in ein anderes Stadium getreten und etwaige Aussagen über Ucañans persönlichen Verbleib von untergeordnetem Interesse.

Zumal es schon vor dem 14. Januar niemanden gegeben hatte, der sich sonderlich für ihn und seine Belange interessierte.

So wenigstens sah es Ucañan, der wenig Freude daran fand, dass Huanchaco über die Jahre zu einem international gefragten Badeparadies avanciert war. Er hatte nichts davon, wenn Wildfremde glaubten, die Welt sei in Ordnung, wo Einheimische mit archaisch anmutenden Binsenbooten aufs Meer hinausfuhren. Archaisch war eher, dass sie überhaupt noch rausfuhren. Der Großteil seiner Landsleute verdiente sein Geld auf den Fabriktrawlern und in den Fischmehl— und Fischölfabriken, dank derer Peru trotz schwindender Fangmengen unverändert die Weltspitze der Fischereinationen bildete, zusammen mit Chile, Russland, den USA und den führenden Nationen Asiens. El Niño zum Trotz wucherte Huanchaco nach allen Seiten, reihte sich Hotel an Hotel, wurden bedenkenlos die letzten Reservate der Natur geopfert. Am Ende machten alle irgendwie noch ihr Geschäft. Alle bis auf Ucañan, dem kaum mehr geblieben war als sein malerisches Bötchen, ein Caballito, ›Pferdchen‹, wie entzückte Conquistadores die eigentümlichen Konstruktionen einst genannt hatten. Aber wie es aussah, würde es auch die Caballitos nicht mehr lange geben.

Das beginnende Jahrtausend hatte offenbar beschlossen, Ucañan auszusondern.

Inzwischen wurde er seiner Empfindungen nicht mehr Herr. Einerseits fühlte er sich bestraft. Von El Niño, der Peru seit Menschengedenken heimsuchte und für den er nichts konnte. Von den Umweltschützern, die auf Kongressen von Überfischung und Kahlschlag sprachen, dass man förmlich die Köpfe der Politiker sah, wie sie sich langsam drehten und auf die Betreiber der Fischereiflotten starrten, bis ihnen plötzlich auffiel, dass sie in einen Spiegel schauten. Dann wanderten ihre Blicke weiter auf Ucañan, der auch für das ökologische Desaster nichts konnte. Weder hatte er um die Anwesenheit der schwimmenden Fabriken gebeten, noch um die japanischen und koreanischen Trawler, die an der 200-Seemeilen-Zone nur darauf warteten, sich am hiesigen Fisch gütlich zu tun. An nichts trug Ucañan die Schuld, aber mittlerweile konnte er es selber kaum noch glauben. Das war die andere Empfindung, dass er sich schäbig zu fühlen begann. Als sei er es, der Millionen Tonnen Thunfisch und Makrele aus dem Meer zog.

Er war 28 Jahre alt und einer der Letzten seiner Art. Seine fünf älteren Brüder arbeiteten sämtlich in Lima. Sie hielten ihn für einen Schwachkopf, weil er bereit war, mit einem Boot hinauszufahren, das wenig mehr war als der Vorläufer des Surfboards, um in den verödeten Weiten der Küstengewässer auf Bonitos und Makrelen zu warten, die nicht kamen. Sie pflegten ihn darauf hinzuweisen, dass man Toten keinen Atem einhauchen könne. Aber es war der Atem seines Vaters, um den es ging, der trotz seiner bald siebzig Jahre jeden Tag hinausgefahren war. Bis vor wenigen Wochen jedenfalls. Jetzt ging der alte Ucañan nicht mehr fischen. Er lag mit einem merkwürdigen Husten und Flecken im Gesicht zu Hause und schien allmählich den Verstand zu verlieren, und Juan Narciso hatte sich an dem Gedanken festgebissen, den alten Mann am Leben halten zu können, solange er die Tradition am Leben hielt. Seit über tausend Jahren hatten Ucañans Vorfahren, die Yunga und Moche, Schilfboote benutzt, noch bevor die Spanier ins Land kamen. Sie hatten die Küstenregion vom hohen Norden bis hinunter in die Gegend der heutigen Stadt Pisco besiedelt und die mächtige Metropole von Chan Chan mit Fisch beliefert. Damals war die Gegend reich gewesen an Wachaques, küstennahen Sümpfen, die von unterirdischen Süßwasserquellen gespeist wurden. In rauen Mengen war dort das Rietgras gesprossen, aus dem Ucañan und die Verbliebenen seines Standes immer noch ihre caballitos schnürten, nicht anders als es die Alten getan hatten. Ein caballito zu bauen erforderte Geschicklichkeit und innere Ruhe. Die Konstruktion war einzigartig. Drei bis vier Meter lang, mit spitzem, hoch gebogenem Bug und federleicht, war das Binsenbündel praktisch unsinkbar. In früheren Zeiten hatten Tausende die Wellen durchschnitten vor der Küstenregion, die ›Goldener Fisch‹ geheißen hatte, weil man selbst an schlechten Tagen mit reicherer Beute heimkehrte, als Männer wie Ucañan jetzt in ihren kühnsten Träumen fingen.

Aber auch die Sümpfe verschwanden und mit ihnen das Schilfgras.

El Niño wenigstens war kalkulierbar. Alle paar Jahre um die Weihnachtszeit erwärmte sich der ansonsten kalte Humboldtstrom infolge ausbleibender Passatwinde und verarmte an Nährstoffen, und Makrelen, Bonitos und Sardellen ließen sich nicht blicken, weil sie nichts zu fressen fanden. Darum hatten Ucañans Vorfahren dem Phänomen den Namen El Niño gegeben, frei übersetzt ›das Christkind‹. Manchmal beließ es das Christkind dabei, einfach ein wenig die Natur durcheinander zu bringen, aber alle vier bis fünf Jahre schickte es die Strafe des Himmels über die Menschen, als wolle es sie vom Angesicht der Erde tilgen. Wirbelstürme, verdreißigfachte Regengüsse und tödliche Schlammlawinen — jedesmal verloren Hunderte ihr Leben. El Niño kam und ging, so war es immer gewesen. Man konnte sich nicht unbedingt mit ihm anfreunden, aber irgendwie arrangieren. Seit jedoch der pazifische Reichtum in Schleppnetzen verendete, deren Öffnungen groß genug waren, dass zwölf Jumbo Jets nebeneinander reingepasst hätten, halfen nicht mal mehr Gebete.

Vielleicht, ging es Ucañan durch den Kopf, während die Dünung sein Caballito schaukelte, bin ich ja wirklich dumm. Dumm und schuldig. Wir alle sind schuldig, weil wir uns mit einem christlichen Schutzheiligen eingelassen haben, der weder etwas gegen El Niño tut noch gegen die Fischereiverbände und staatliche Absprachen.

Früher, dachte er, hatten wir Schamanen in Peru. Ucañan wusste aus Erzählungen, was Archäologen in den alten präkolumbianischen Tempeln nahe der Stadt Trujillo gefunden hatten, gleich hinter der Pyramide des Mondes. Neunzig Skelette hatten da gelegen, Männer, Frauen und Kinder, erschlagen oder erdolcht. In einem verzweifelten Versuch, den hereinbrechenden Fluten des Jahres 560 Einhalt zu gebieten, hatten die Hohepriester das Leben von neunzig Menschen geopfert, und El Niño war gegangen.

Wen musste man opfern, um die Überfischung zu stoppen?

Ucañan erschauerte vor seinen eigenen Gedanken. Er war ein guter Christ. Er liebte Jesus Christus, und er liebte San Pedro, den Schutzheiligen der Fischer. Kein San Pedro Day, wenn der hölzerne Heilige per Boot von Dorf zu Dorf gefahren wurde, an dem er nicht mit ganzem Herzen dabei war. Und dennoch! Vormittags liefen alle zur Kirche, aber nachts brannten die wahren Feuer. Schamanismus stand in voller Blüte. Doch welcher Gott konnte helfen, wo selbst das Christkind beteuerte, es habe mit dem neuen Elend der Fischer nichts zu tun, sein Einfluss erschöpfe sich im Durcheinander der Naturgewalten, und alles andere sei bitte schön Sache der Politiker und Lobbyisten?


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