»Sondern?«

»Die Seekästen sind frei, aber der Propeller ist ebenfalls bewachsen, ist voller Muscheln. Ich weiß nicht, wie dieses Zeug überhaupt ans Schiff gelangen konnte, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: An einem rotierenden Propeller hätte sich noch die hartnäckigste Muschel die Schalen ausgebissen. Also entweder sind die Tiere bereits in Japan zugestiegen — was mich wundern würde, denn bis zweihundert Seemeilen vor Kanada hat das Ruder ja reibungslos funktioniert —, oder sie kamen unmittelbar, bevor die Maschinen stoppten.«

»Sie meinen, die haben das Schiff auf hoher See befallen?«

»Geentert wäre treffender. Ich versuche mir vorzustellen, was passiert ist. Ein gigantischer Schwarm Muscheln setzt sich am Ruder fest. Als das Blatt blockiert, gerät das Schiff in Schräglage. Wenige Minuten später stoppt die Maschine. Der Propeller steht. Immer noch kommen Muscheln nach, setzen sich weiterhin ans Ruder, um die Blockade sozusagen zu zementieren, gelangen dabei an die Schraube und den übrigen Rumpf.«

»Wo kommen denn Tonnen ausgewachsener Muscheln her?«, sagte Roberts und sah sich hilflos um. »Mitten auf dem Ozean!«

»Warum drängen Wale Schlepper ab und springen auf Trossen? Sie haben mit den komischen Geschichten angefangen, nicht ich.«

»Ja, schon, aber …« Roberts nagte an seiner Unterlippe. »All das geschah gleichzeitig. Ich weiß auch nicht, es klingt fast, als wäre da ein Zusammenhang. Aber das ergibt doch keinen Sinn. Muscheln und Wale.«

Anawak zögerte.

»Wann wurde die Unterseite der Barrier Queen zuletzt kontrolliert?«

»Es gibt ständig Kontrollen. Und die Barrier Queen hat einen Spezialanstrich. Keine Angst, er ist umweltfreundlich! Aber viel kann sich eigentlich nicht darauf absetzen. Vielleicht ein paar Seepocken.«

»Das sind jedenfalls mehr als ein paar Seepocken.« Anawak hielt inne und starrte ins Leere. »Aber Sie haben Recht! Das Zeug dürfte gar nicht dort sein. Man könnte den Eindruck gewinnen, als sei die Barrier Queen wochenlang einer Invasion von Muschellarven ausgesetzt gewesen, und außerdem … da war dieses Ding in den Muscheln …« »Welches Ding?« Anawak berichtete von dem Wesen, das aus dem Muschelberg hervorgebrochen war. Während er davon sprach, erlebte er die Szene wieder. Den Schock und wie er mit dem Kopf gegen den Kiel geschlagen war. Sein Schädel dröhnte jetzt noch davon. Er hatte Sterne gesehen … Nein, Lichtblitze.

Einen Lichtblitz, um genau zu sein.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es gar nicht in seinem Kopf geblitzt hatte, sondern vor ihm im Wasser.

Dieses Ding hatte geblitzt.

Vorübergehend war er im tatsächlichen Sinne sprachlos. Er vergaß, einen Bericht fortzusetzen, weil ihm dämmerte, dass dieses Wesen luminesziert hatte. Wenn das zutraf, entstammte es möglicherweise den tieferen Schichten. Aber dann konnte es sich kaum in einem Hafen an den Rumpf der Barrier Queen geheftet haben. Es musste zusammen mit den Muscheln an die Hülle gelangt sein, auf offener See. Vielleicht hatten die Muscheln das Wesen angelockt, weil sie ihm als Nahrung dienten. Oder als Schutz. Und wenn es ein Krake war …

»Dr. Anawak?«

Er fokussierte seinen Blick wieder auf Roberts.

Ja, ein Krake, dachte er. Das könnte es am ehesten gewesen sein. Für eine Qualle war es zu schnell. Und zu stark. Es hat die Muscheln regelrecht auseinander gesprengt — so als sei es ein einziger elastischer Muskel. Dann fiel ihm ein, dass dieses Ding exakt in dem Augenblick hervorgeplatzt war, als er in den Spalt geschnitten hatte. Er musste es mit dem Messer verletzt haben. Hatte er ihm Schmerzen zugefügt? Zumindest hatte der Messerstich einen Reflex freigesetzt …

Übertreib’s mal nicht, dachte er. Was hast du schon groß gesehen in der Brühe da unten? Hauptsächlich hast du dich erschrocken.

»Sie sollten das Hafenbecken absuchen lassen«, sagte er zu Roberts. »Aber vorher schicken Sie diese Proben« — er deutete auf die verschlossenen Gefäße — »schnellstmöglich ins Forschungsinstitut nach Nanaimo zur Untersuchung. Packen Sie sie in den Helikopter. Ich fliege mit, ich weiß, wem wir sie dort in die Hand drücken.«

Roberts nickte. Dann zog er Anawak ein Stück beiseite. »Verdammt, Leon! Was halten Sie denn nun wirklich von alldem?«, flüsterte er. »Es ist unmöglich, dass sich meterdicker Bewuchs innerhalb von so kurzer Zeit festsetzt. Das Schiff hat schließlich nicht wochenlang vor sich hingegammelt.«

»Diese Muscheln sind eine Pest, Mr. Roberts …«

»Clive.«

»Clive, die Biester treten nicht allmählich auf, sondern immer gleich als Überfallkommando. So viel weiß man.«

»Aber doch nicht so schnell.«

»Jede dieser verdammten Muscheln kann pro Jahr bis zu tausend Nachkommen in die Welt setzen. Die Larven treiben mit der Strömung oder als blinde Passagiere zwischen den Schuppen von Fischen und im Gefieder von Wasservögeln. In amerikanischen Seen hat man Stellen gefunden, wo 900000 von ihnen einen einzigen Quadratmeter besiedeln, und sie sind tatsächlich beinahe über Nacht da hingekommen. Sie besetzen Trinkwasseranlagen, Kühlkreisläufe flussnaher Industriegebiete, Bewässerungssysteme, verstopfen und zerstören Rohrleitungen, und sie fühlen sich in Salzwasser offenbar ebenso wohl wie in Seen und Flüssen.«

»Na schön, aber Sie reden von Larven.«

»Millionen Larven.«

»Meinetwegen Milliarden, und meinetwegen im Hafen von Osaka oder auf hoher See. Was spielt das für eine Rolle? Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, die wären im Verlauf der letzten paar Tage alle erwachsen geworden, komplett mit Schale? — Ich meine, sind Sie denn überhaupt sicher, dass wir es wirklich mit Zebramuscheln zu tun haben?«

Anawak sah über die Schulter zu dem Lieferwagen der Taucher. Sie räumten die Ausrüstung ins Innere. Die Probenbehälter, notdürftig versiegelt, standen in einer Plastikkiste davor. »Wir haben hier eine Gleichung mit mehreren Unbekannten«, sagte er. »Wenn Wale tatsächlich versucht haben, die Schlepper abzudrängen, müssen wir fragen, warum. Weil an dem Schiff etwas vorgeht, das zu Ende gebracht werden soll? Weil es sinken soll, nachdem es von den Muscheln lahm gelegt wurde? Dann dieser unbekannte Organismus, der die Flucht ergreift, als ich seinem Versteck zu Leibe rücke. — Wie klingt das für Sie?«

»Wie die Fortsetzung von Independence Day mit anderen Mitteln. Meinen Sie wirklich …«

»Warten Sie. Nehmen wir dieselbe Gleichung. Eine etwas nervöse Herde Grau— oder Buckelwale fühlt sich durch die Barrier Queen belästigt. Da kommen zu allem Überfluss zwei Schlepper und rempeln sie an. Sie rempeln zurück. Aus purem Zufall ist das Schiff zudem von einer biologischen Plage befallen, die es sich im Ausland geholt hat wie ein Tourist die Pocken, und auf hoher See hat sich ein Kalmar in die Muschelberge verirrt.«

Roberts starrte ihn an. »Wissen Sie, ich glaube nicht an Science-Fiction«, fuhr Anawak fort. »Alles ist eine Frage der Interpretation. Schicken Sie ein paar Leute da runter. Sie sollen den Bewuchs abkratzen, aufpassen, ob noch weitere Überraschungsgäste darin sitzen, und sie einfangen.« »Was glauben Sie, wann wir mit den Ergebnissen aus Nanaimo rechnen können?« »In wenigen Tagen, schätze ich. — Es wäre übrigens hilfreich, wenn ich ein Exemplar des Berichts bekäme.« »Vertraulich«, betonte Roberts.

»Selbstverständlich. Ebenso vertraulich würde ich mich gerne mit der Mannschaft unterhalten.«

Roberts nickte. »Ich habe nicht das letzte Wort in der Sache. Aber ich sehe, was sich machen lässt.«

Sie gingen zurück zum Lieferwagen, und Anawak schlüpfte in seine Jacke.

»Ist es eigentlich üblich, in solchen Fällen Wissenschaftler hinzuzuziehen?«, fragte er.

»Solche Fälle sind überhaupt nicht üblich.« Roberts schüttelte den Kopf. »Es war meine Idee, ich hatte Ihr Buch gelesen und wusste, dass Sie auf Vancouver Island zu finden sind. Die Untersuchungskommission ist davon nicht rückhaltlos begeistert. — Aber ich denke, es war richtig. Wir verstehen nun mal nicht so viel von Walen.«


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