Ucañan überlegte, wie groß die Gefahr war, von einem Hai attackiert zu werden. Im Allgemeinen traf man in diesen Breiten keine Exemplare an, die Menschen gefährlich wurden. In seltenen Fällen waren Hammer-, Mako— und Heringshaie gesichtet worden, die Fischernetze plünderten, allerdings weiter draußen. Die großen Weißen ließen sich vor Peru so gut wie gar nicht blicken. Außerdem war es ein Unterschied, im freien Wasser zu tauchen oder in unmittelbarer Nähe von Felsen und Riffstrukturen wie hier, die eine gewisse Sicherheit boten. Ein Hai, schätzte Ucañan, war es ohnehin nicht gewesen, der sein Netz auf dem Gewissen hatte.
Seine eigene Unachtsamkeit war schuld. Das war alles.
Er pumpte seine Lungen auf und sprang kopfüber in die Wellen. Es war wichtig, dass er schnell nach unten gelangte, ansonsten würde ihn die eingeatmete Luft wie einen Ballon an der Oberfläche halten. Den Körper senkrecht gestellt, Kopf voran, legte er Abstand zwischen sich und die Oberfläche. War das Wasser vom Boot aus dunkel und undurchdringlich erschienen, tat sich um ihn herum nun eine helle, freundliche Welt auf, mit klarer Sicht auf das vulkanische Riff, das sich auf einer Länge von einigen hundert Metern dahinzog. Die Felsen waren gesprenkelt von Sonnenlicht. Ucañan sah kaum Fische, aber er achtete auch nicht darauf. Sein Blick suchte die Formation nach dem Calcal ab. Allzu lange konnte er nicht hier unten verweilen, wenn er nicht riskieren wollte, dass das Caballito zu weit abtrieb. Falls er in den nächsten Sekunden nichts erblickte, würde er wieder auftauchen und einen zweiten Versuch unternehmen müssen.
Und wenn es zehn Versuche kostete! Wenn es den halben Tag dauerte. Er konnte unmöglich ohne das Netz zurückkehren.
Dann sah er die Boje.
In etwa zehn bis fünfzehn Metern Tiefe schwebte sie über einem zerklüfteten Vorsprung. Das Netz hing direkt darunter. Es schien sich an mehreren Stellen verhakt zu haben. Winzige Rifffische umschwärmten die Maschen und stoben, als Ucañan näher kam, auseinander. Er stellte sich im Wasser aufrecht, trat mit den Füßen und machte sich daran, das Calcal zu lösen. Die Strömung blähte sein offenes Hemd.
Dabei fiel ihm auf, dass das Netz völlig zerfetzt war.
Fassungslos starrte er auf das Zerstörungswerk. Das hatten nicht allein die Felsen verursacht.
Was um alles in der Welt hatte hier gewütet?
Und wo war dieses Etwas gerade?
Von Unruhe ergriffen begann Ucañan an dem Calcal herumzunesteln. Wie es aussah, stand ihm tagelanges Flicken bevor. Allmählich wurde ihm die Luft knapp. Er würde es vielleicht im ersten Anlauf nicht schaffen, aber selbst ein ruiniertes Calcal besaß noch einen Wert.
Schließlich hielt er inne.
Es hatte keinen Zweck. Er würde aufsteigen, nach dem Caballito sehen und noch einmal hinabtauchen müssen.
Während er darüber nachdachte, ging um ihn herum eine Veränderung vor. Zuerst glaubte er, eine Wolke sei vor die Sonne gezogen. Die tanzenden Lichtflecken waren von den Felsen gewichen, die Strukturen und Pflanzen warfen keine Schatten mehr …
Er stutzte.
Seine Hände, das Netz, alles verlor an Farbe und wurde fahl. Selbst Wolken konnten diesen plötzlichen Übergang nicht erklären. Innerhalb von Sekunden hatte sich der Himmel über Ucañan verdunkelt.
Er ließ das Calcal los und sah nach oben.
So weit das Auge reichte, zog sich dicht unter der Wasseroberfläche ein Schwarm armlanger, schimmernder Fische zusammen. Vor lauter Verblüffung ließ Ucañan einen Teil der Luft in seinen Lungen entweichen. Perlend trieb sie nach oben. Er fragte sich, wo der riesige Schwarm so plötzlich hergekommen war. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gesehen. Die Leiber schienen beinahe stillzustehen, nur hin und wieder gewahrte er das Zucken einer Schwanzflosse oder das Vorschnellen eines einzelnen Tieres. Dann plötzlich vollzog der Schwarm eine Korrektur seiner Position um wenige Grad, die alle Tiere kollektiv vollführten, und die Leiber schmiegten sich noch enger aneinander.
Eigentlich das typische Verhalten eines Schwarms. Dennoch stimmte etwas nicht damit. Es war weniger das Verhalten der Fische, das ihn irritierte. Es waren die Fische selber.
Sie waren einfach zu viele.
Ucañan drehte sich um seine eigene Achse. Wohin er auch schaute, verlor sich die gewaltige Menge der Fische im Unendlichen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah durch eine Lücke zwischen den Leibern den Schatten seines Caballito, das sich gegen die kristallen funkelnde, leicht bewegte Oberfläche abzeichnete. Dann schloss sich auch dieser letzte Ausblick. Es wurde noch dunkler, und die verbliebene Luft in seinen Lungen begann schmerzhaft zu brennen.
Goldmakrelen, dachte er fassungslos.
Auf ihre Rückkehr hatte kaum noch jemand zu hoffen gewagt. Im Grunde hätte er sich freuen müssen. Goldmakrelen brachten einen leidlich guten Preis auf dem Markt, und ein randvolles Netz davon ernährte einen Fischer samt Familie eine ganze Weile.
Aber Ucañan spürte keine Freude.
Stattdessen überkam ihn schleichende Furcht.
Dieser Schwarm war unglaublich. Er reichte von Horizont zu Horizont. Hatten die Makrelen das Calcal zerstört? Ein Schwarm Goldmakrelen? Aber wie sollte das möglich sein?
Du musst hier weg, sagte er sich.
Er stieß sich von den Felsen ab. Um Ruhe bemüht, stieg er langsam und kontrolliert auf, weiterhin Reste von Luft ausstoßend. Sein Körper trieb den dicht gedrängten Leibern entgegen, die ihn von der Wasseroberfläche, vom Sonnenlicht und von seinem Boot trennten. Jede Bewegung in dem Schwarm war mittlerweile zum Stillstand gekommen, eine endlose, glotzäugige Ansammlung von Gleichgültigkeit. Und doch war ihm, als ob die Tiere nur seinetwegen so unvermittelt aus dem Nichts erschienen wären, als ob sie auf ihn warteten.
Sie wollen mich abhalten, durchfuhr es ihn. Sie wollen mich daran hindern, wieder aufs Boot zu gelangen.
Plötzlich erfasste ihn kaltes Grauen. Sein Herz raste. Er achtete nicht mehr auf seine Geschwindigkeit, dachte nicht mehr an das zerfetzte Calcal und die Boje, nicht einmal an das Caballito verschwendete er noch einen Gedanken, nur noch daran, die schreckliche Dichte über sich zu durchstoßen und zurück an die Oberfläche zu gelangen, zurück ins Licht, in sein Element, in Sicherheit.
Einige der Fische zuckten zur Seite.
Aus ihrer Mitte schlängelte sich etwas auf Ucañan zu.
Nach einer ganzen Weile frischte der Wind auf.
Immer noch war keine Wolke am Himmel zu sehen. Es war und blieb ein schöner Tag. Der Wellengang hatte in kaum nennenswerter Weise zugenommen, ohne dass es für einen Mann in einem kleinen Boot ungemütlich geworden wäre.
Aber es war kein Mann zu sehen.
Niemand weit und breit.
Nur das Caballito, eines der letzten seiner Art, trieb langsam hinaus auf den offenen Ozean.
ERSTER TEIL
ANOMALIEN
Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben. Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut. Und ich hörte den Engel, der die Macht über das Wasser hat, sagen: Gerecht bist du …
An der chilenischen Küste wurde vergangene Woche ein riesiger, unidentifizierter Kadaver angeschwemmt, der sich an der Luft rasch zersetzte. Nach Angaben der chilenischen Küstenwache handelt es sich bei der formlosen Masse nur um einen kleinen Teil einer größeren Masse, die zuvor im Wasser treibend beobachtet wurde. Die chilenischen Experten fanden keinerlei Knochen? die ein Wirbeltier selbst in einem derartigen Zustand noch hätte. Die Masse sei zu groß für Walhaut und würde auch nicht danach riechen. Die bisherigen Erkenntnisse weisen erstaunliche Parallelen zu den sogenannten Clobsters auf. Diese gallertartigen Massen werden immer wieder an Küstenabschnitten angeschwemmt. Von welcher Art Tier sie stammen, kann allenfalls vermutet werden.