»Das ist im Augenblick nicht mein Problem«, sagte Lund leicht gereizt. »Mein Problem ist, ob da überhaupt gebaut werden kann. So weit draußen haben wir noch nie gebohrt. Wir müssen die technischen Voraussetzungen prüfen. Wir müssen unter Beweis stellen, dass wir umweltverträglich arbeiten. Also gehen wir nachschauen, was da alles rumschwimmt und wie die Umwelt beschaffen ist, damit wir ihr nicht auf die Füße treten.«

Johanson nickte. Lund schlug sich mit den Ergebnissen der Nordseekonferenz herum, nachdem das norwegische Fischereiministerium bemäkelt hatte, täglich würden Millionen Tonnen verseuchten Produktionswassers ins Meer gepumpt. Produktionswasser wurde von den unzähligen Offshore-Anlagen in der Nordsee und vor Norwegens Küste zusammen mit Öl aus dem Meeresboden gefördert, dem es Millionen Jahre lang beigemischt gewesen war, gesättigt mit Chemikalien. Gemeinhin wurde es bei der Förderung nur mechanisch von Ölklumpen getrennt und direkt ins Meer geleitet. Jahrzehntelang hatte niemand diese Praxis infrage gestellt. Bis die Regierung beim norwegischen Institut für Meereswissenschaften eine Studie in Auftrag gegeben hatte, deren Quintessenz Umweltschützer wie Ölkonzerne gleichermaßen aufschreckte. Gewisse Substanzen im Produktionswasser beeinträchtigten die Fortpflanzungszyklen des Kabeljaus. Sie wirkten wie weibliche Hormone. Männliche Fische wurden unfruchtbar oder wechselten das Geschlecht. Inzwischen schienen auch andere Arten bedroht. Die Forderung nach einem sofortigen Einleitungsstopp kam auf, was die Ölproduzenten zwang, nach Alternativen zu forschen.

»Es ist ganz richtig, dass sie euch auf die Finger gucken«, sagte Johanson. »Je genauer, desto besser.«

»Du hilfst mir wirklich weiter.« Lund seufzte. »Jedenfalls, beim Rumstochern am Hang sind wir ziemlich tief runtergegangen. Wir haben seismische Messungen durchgeführt und den Roboter auf 700 Meter geschickt, um Bilder zu machen.«

»Von Würmern.«

»Wir waren völlig überrascht. Wir hätten nicht erwartet, sie da unten vorzufinden.«

»Unsinn. Würmer kommen überall vor. Und oberhalb 700 Meter? Habt ihr sie da auch gefunden?«

»Nein.« Sie rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. »Was ist jetzt mit den verdammten Biestern? Ich würde die Sache gerne zu den Akten legen, wir haben noch einen Riesenhaufen Arbeit vor uns.«

Johanson stützte das Kinn in die Hände.

»Das Problem mit deinem Wurm ist«, sagte er, »dass es eigentlich zwei Würmer sind.«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Natürlich. Es sind zwei Würmer.«

»Das meine ich nicht. Ich meine die Gattung. Wenn ich mich nicht irre, gehört er zu einer kürzlich entdeckten Art, von der man bis dato gar nichts wusste. Man hat sie im Golf von Mexiko entdeckt, wo sie sich auf dem Meeresboden rumtreibt und offenbar von Bakterien profitiert, die wiederum Methan als Energie-und Wachstumsquelle nutzen.«

»Methan, sagst du?«

»Ja. Und da beginnt es spannend zu werden. Deine Würmer sind zu groß für ihre Spezies. Ich meine, es gibt Borstenwürmer, die werden zwei Meter lang und mehr. Übrigens auch ziemlich alt. Aber das sind andere Kaliber, und sie kommen ganz woanders vor. Wenn deine identisch sind mit denen aus dem Mexikanischen Golf, müssen sie seit ihrer Entdeckung ordentlich gewachsen sein. Die vom Golf messen maximal fünf Zentimeter, deine sind dreimal so lang. Außerdem wurden sie am Norwegischen Kontinentalhang bislang nicht beschrieben.«

»Interessant. Wie erklärst du dir das?«

»Du machst mir Spaß! Ich kann es nicht erklären. Die einzige Antwort, die ich im Moment parat habe, ist, dass ihr auf eine neue Art gestoßen seid. Herzlichen Glückwunsch. Sie ähnelt äußerlich dem mexikanischen Eiswurm, in der Größe und bestimmten Merkmalen jedoch einem ganz anderen Wurm. Besser gesagt einem Wurmahnen, von dem wir glaubten, dass er längst ausgestorben sei. Einem kleinen kambrischen Ungeheuer. Es wundert mich nur …«

Er zögerte. Die Region war von den Ölgesellschaften derart unter die Lupe genommen worden, dass ein Wurm dieser Größe längst hätte auffallen müssen.

»Nur?«, drängte Lund.

»Na ja, entweder sind wir alle blind gewesen, oder es hat deine neuen Freunde dort vorher nicht gegeben. Vielleicht stammen sie aus noch größerer Tiefe.«

»Was uns zu den Frage bringt, wie sie so hoch nach oben gelangen konnten.« Lund schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Wann kannst du den Bericht fertig haben?«

»Ich sehe schon, du machst mal wieder Stress.«

»Ich kann jedenfalls keinen Monat darauf warten!«

»Ist ja gut«, Johanson hob beschwichtigend die Hände. »Ich werde deine Würmer in der Welt herumschicken müssen, aber wozu hat man seine Leute. Gib mir zwei Wochen. Und versuch nicht, mich noch weiter runterzuhandeln. Schneller geht’s beim besten Willen nicht.«

Lund erwiderte nichts. Während sie vor sich hinstarrte, kam das Essen, aber sie rührte es nicht an.

»Und sie ernähren sich von Methan?«

»Von Methan fressenden Bakterien«, korrigierte sie Johanson. »Ein ziemlich verzwicktes symbiotisches System, über das schlauere Leute mehr erzählen können. Aber das gilt für den Wurm, von dem ich glaube, dass er mit deinem verwandt ist. Noch ist nichts bewiesen.«

»Wenn er größer ist als der vom Mexikanischen Golf, hat er auch mehr Appetit«, sinnierte Lund.

»Mehr jedenfalls als du«, sagte Johanson mit Blick auf ihren unangetasteten Teller. »Übrigens wäre es hilfreich, wenn du weitere Exemplare deiner Monsterspezies auftreiben könntest.«

»Daran soll’s nicht mangeln.«

»Ihr habt noch welche?«

Lund nickte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Dann begann sie zu essen. »Ein rundes Dutzend«, sagte sie. »Aber unten sind noch mehr.« »Viele?« »Ich müsste schätzen.« Sie machte eine Pause. »Aber ich würde sagen, ein paar Millionen.«

12. März

Vancouver Island, Kanada

Die Tage kamen und gingen, aber der Regen blieb.

Leon Anawak konnte sich nicht erinnern, wann es in den letzten Jahren so lange am Stück geregnet hatte. Er schaute hinaus auf den einförmig glatten Ozean. Der Horizont erschien als quecksilbrige Linie zwischen der Wasseroberfläche und den tief hängenden Wolkenmassen. Dort hinten begann sich eine Pause abzuzeichnen vom tagelangen Geprassel. Genau ließ sich das nicht sagen. Ebenso gut konnte Nebel heranziehen. Der Pazifische Ozean schickte, was er wollte, im Allgemeinen ohne Vorankündigung.

Ohne die Linie aus den Augen zu lassen, beschleunigte Anawak die Blue Shark und fuhr ein Stück weiter hinaus. Das Zodiac, wie die stark motorisierten, großen Schlauchboote genannt wurden, war voll besetzt. Zwölf Menschen in regenfesten Overalls, bewaffnet mit Feldstechern und Kameras, verloren gerade die Lust an der Sache. Weit über anderthalb Stunden hatten sie ausgeharrt in Erwartung von Grau— und Buckelwalen, die im Februar die warmen Buchten von Baja California und die Gewässer um Hawaii verlassen hatten, um ihren Treck in die sommerlichen Futtergründe der Arktis anzutreten. Sechzehntausend Kilometer legten sie jedes Mal zurück. Ihre Reise führte sie vom Pazifik durch das Beringmeer in die Tschuktschensee bis an die Packeisgrenze und mitten hinein ins Schlaraffenland, wo sie sich die Bäuche voll schlugen mit Flohkrebsen und Garnelen. Wenn die Tage wieder kürzer wurden, traten sie erneut den langen Weg an, zurück nach Mexiko. Dort, geschützt vor ihren schlimmsten Feinden, den Orcas, brachten sie ihre Jungen zur Welt. Zweimal im Jahr passierten die Herden der riesigen Meeressäuger British Columbia und die Gewässer vor Vancouver Island — Monate, in denen Orte wie Tofino, Ucluelet und Victoria mit ihren Whale-Watching-Stationen ausgebucht waren.

Nicht so in diesem Jahr.

Längst hätten Vertreter der einen oder anderen Spezies Kopf oder Fluke für das obligatorische Foto herhalten müssen. Die Wahrscheinlichkeit, den Säugern zu begegnen, war um diese Zeit so hoch, dass Davies Whaling Station Walsichtungen garantierte und für den gegenteiligen Fall kostenlose Wiederholungsfahrten anbot. Ein paar Stunden ohne Sichtungen mochten vorkommen, ein Tag galt schon als ausgesprochenes Pech. Eine ganz Woche bot Anlass, sich Sorgen zu machen, aber eigentlich kam es nicht vor.


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