Er ging unter Deck, nahm einen Packen Unterlagen an sich und lief zurück zur Station. In Vancouver besaß er ein Auto, einen rostigen Ford. Für die Insel reichte es, sich hin und wieder Shoemakers alten Land Cruiser auszuleihen. Er stieg ein, startete den Motor und fuhr zum Wickaninnish Inn, einem Hotel der Spitzenkategorie, das wenige Kilometer entfernt auf einem Felsvorsprung lag und einen phantastischen Blick auf den Ozean bot. Inzwischen war der Himmel weiter aufgerissen und ließ blaue Stellen sehen. Die gut ausgebaute Straße führte durch dichten Wald. Nach zehn Minuten stellte er den Wagen auf einem kleinen Parkplatz ab und ging zu Fuß weiter, vorbei an umgestürzten, langsam verrottenden Riesenbäumen. Der ansteigende Pfad wand sich durch grünes Dämmerlicht. Es roch nach feuchter Erde.
Wasser tropfte. Von den Ästen der Tannen wucherten Farne und Moose herab. Alles schien belebt.
Als das Wickaninnish Inn vor ihm auftauchte, hatte die kurze Pause abseits menschlicher Gesellschaft ihre Wirkung getan. Jetzt, wo es einigermaßen aufgeklart hatte, konnte er sich mit seinen Unterlagen in aller Ruhe an den Strand setzen. Eine Weile würde das Licht noch reichen. Vielleicht, dachte er, während er die hölzernen Treppen hinabstieg, die vom Hotel in steilem Zickzack zum Meer hinunterführten, würde er sich anschließend ein Abendessen im Wickaninnish gönnen. Die Küche war ausgezeichnet, und die Vorstellung, unerreichbar für Walker und sein dämliches Getue hier zu sitzen und den Sonnenuntergang zu sehen, besserte seine Laune um ein Weiteres.
Etwa zehn Minuten nachdem er mitsamt Kladde und Laptop einen umgestürzten Baum in Beschlag genommen hatte, sah er eine Gestalt über die Treppen herunterkommen und den Strand entlangschlendern. Sie hielt sich nah am silberblauen Wasser. Es war Ebbe, der Sand im späten Sonnenlicht gesprenkelt von Treibholz. Die Person legte keine besondere Eile an den Tag, aber es war offensichtlich, dass sie in weitem Bogen Anawaks Baum ansteuerte. Er runzelte die Stirn und versuchte, so beschäftigt wie möglich auszusehen. Nach einer Weile hörte er das weiche, knirschende Geräusch näher kommender Schritte. Angestrengt starrte er auf seine Unterlagen, aber mit der Konzentration war es vorbei.
»Hallo«, sagte eine dunkle Stimme.
Anawak schaute auf.
Vor ihm stand eine zierliche, attraktive Frau mit einer Zigarette und lächelte ihn freundlich an. Sie mochte Ende fünfzig sein. Das kurz geschnittene Haar war eisgrau, das Gesicht gebräunt und von unzähligen Falten und Fältchen durchzogen. Sie ging barfuß, trug Jeans und eine dunkle Windjacke.
»Hallo.« Es klang weniger schroff, als er beabsichtigt hatte. Im Moment, da er den Blick zu ihr hob, empfand er ihre Anwesenheit plötzlich nicht mehr als störend. Ihre Augen, von tiefem Blau, funkelten vor Neugierde. In ihrer Jugend musste sie sehr begehrt gewesen sein. Immer noch strahlte sie etwas unbestimmt Erotisches aus.
»Was tun Sie hier?«, fragte sie.
Unter anderen Umständen hätte er es bei einer nichts sagenden Antwort belassen und wäre einfach weitergezogen. Es gab viele Wege, Menschen klarzumachen, dass sie sich zum Teufel scheren sollten.
Stattdessen hörte er sich folgsam antworten: »Ich arbeite an einem Bericht über Belugawale. Und Sie?«
Die Frau zog an ihrer Zigarette. Dann setzte sie sich neben ihn auf den Baumstamm, als habe er sie dazu eingeladen. Er musterte ihr Profil die schmale Nase und die hohen Wangenknochen, und plötzlich dachte er, dass sie gar keine Fremde war. Er hatte sie schon irgendwo gesehen.
»Ich arbeite auch an einem Bericht«, sagte sie. »Aber ich fürchte, keiner wird ihn lesen wollen, wenn es so weit ist, ihn zu veröffentlichen.« Sie machte eine Pause und sah ihn an. »Ich war heute auf Ihrem Boot.«
Daher kannte er sie also. Eine kleine Frau mit Sonnenbrille und über den Kopf gezogener Kapuze.
»Was ist los mit den Walen?«, fragte sie. »Wir haben keinen einzigen zu Gesicht bekommen.«
»Es sind keine da.«
»Warum nicht?«
»Darüber mache ich mir pausenlos Gedanken.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein.«
Die Frau nickte, als sei ihr das Phänomen bekannt.
»Ich kann nachempfinden, was Ihnen durch den Kopf geht. Meine kommen auch nicht, aber im Gegensatz zu Ihnen kenne ich den Grund.«
»Ihre was kommen nicht?«
»Vielleicht sollten Sie nicht länger warten, sondern suchen«, schlug sie vor, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Wir suchen ja.« Er legte die Kladde beiseite und wunderte sich über seine Offenheit. Es war, als spräche er mit einer alten Bekannten. »Wir suchen auf jede erdenkliche Weise.«
»Und wie machen Sie das?«
»Über Satellit. Fernbeobachtung. Wir sind außerdem in der Lage, die Bewegungen der Gruppen via Echoortung zu lokalisieren. Es gibt jede Menge Möglichkeiten.«
»Und trotzdem gehen die Ihnen so einfach durch die Lappen?«
»Niemand hat damit gerechnet, dass sie ausbleiben. Anfang März gab es noch Sichtungen in der Höhe von Los Angeles, und das war’s.«
»Vielleicht hätten Sie besser hingucken sollen.«
»Ja, vielleicht.«
»Und alle sind verschwunden?«
»Nein, nicht alle.« Anawak seufzte. »Das ist ein bisschen komplizierter. Wollen Sie’s hören?« »Sonst hätte ich nicht gefragt.«
»Es sind Wale hier. Residents.«
»Residents?«
»Vor Vancouver Island beobachten wir dreiundzwanzig verschiedene Arten von Walen. Manche ziehen periodisch durch, Grauwale, Buckelwale, Minkwale, andere leben in der Region. Wir haben alleine drei Arten von Schwertwalen.«
»Schwertwale?«
»Orcas.«
»Ah! Killerwale.«
»Die Bezeichnung ist blanker Unsinn«, sagte Anawak ärgerlich. »Orcas sind freundlich, es gibt keine verbrieften Angriffe auf Menschen in freier Natur. Killerwal, Mörderwal, diesen Quatsch haben Hysteriker wie Cousteau in die Welt gesetzt, der sich nicht entblödete, Orcas als Volksfeind Nummer eins zu bezeichnen. Oder Plinius in seiner Geschichte der Natur! Wissen Sie, was der schreibt? Eine ungeheure Masse Fleisch, bewaffnet mit barbarischen Zähnen. So ein Schwachsinn! Können Zähne barbarisch sein?«
»Zahnärzte können barbarisch sein.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Okay, begriffen. Was heißt eigentlich Orca?«
Anawak war überrascht. Diese Frage hatte ihm noch keiner gestellt. »Es ist die wissenschaftliche Bezeichnung.« »Und was bedeutet sie?«
»Orcinus Orca. Der dem Totenreich angehört. Fragen Sie mich jetzt um Himmels willen nicht, wer auf so was gekommen ist.«
Sie schmunzelte in sich hinein.
»Sie sagten, es gäbe drei Arten von Orcas.«
Anawak zeigte hinaus auf den Ozean. »Offshore Orcas, über die wissen wir sehr wenig. Sie kommen und gehen, meist in großen Verbänden. Im Allgemeinen leben sie weit draußen. Transient Orcas wiederum leben nomadisch und in kleinen Gruppen. Vielleicht entsprechen sie am ehesten Ihrem Bild des Killers. Sie fressen alles Mögliche, Seehunde, Seelöwen, Delphine, auch Vögel, sie greifen selbst Blauwale an. Hier, wo die Küste felsig ist, bleiben sie ausschließlich im Wasser, aber in Südamerika finden Sie Transients, die am Strand jagen. Sie kommen aufs Trockene und greifen sich Robben und anderes Getier. Faszinierend!«
Er hielt inne in Erwartung einer neuen Frage, aber die Frau schwieg und blies nur etwas Rauch in die Abendluft.
»Die dritte Art lebt in unmittelbarer Umgebung der Insel«, fuhr Anawak fort. »Residents. Großfamilien. Kennen Sie die Insel?«
»Einigermaßen.«
»Im Osten, zum Festland hin, gibt es eine Meerenge, die Johnstone Strait. Die Residents sind dort das ganze Jahr über. Sie fressen ausschließlich Lachs. Seit Anfang der siebziger Jahre erforschen wir ihre Sozialstruktur.« Er machte eine Pause und sah sie verwirrt an. »Wie kommen wir jetzt darauf? Was wollte ich überhaupt erzählen?«
Sie lachte. »Tut mir Leid. Meine Schuld. Ich habe Sie aus dem Konzept gebracht, aber ich muss immerzu alles ganz genau wissen. Wahrscheinlich gehe ich Ihnen furchtbar auf die Nerven mit meiner Fragerei.«