“Ich weiß doch auch nicht” versetzte Eduard, “wie du Ottilien so hoch stellen kannst! Nur dadurch erkläre ich mir‘s, daß sie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat. Hübsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnre mich, daß der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zurückkamen und sie mit dir bei deiner Tante trafen. Hübsch ist sie, besonders hat sie schöne Augen; aber ich wüßte doch nicht, daß sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht hätte.”

“Das ist löblich an dir” sagte Charlotte, “denn ich war ja gegenwärtig; und ob sie gleich viel jünger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart der ältern Freundin so viele Reize für dich, daß du über die aufblühende, versprechende Schönheit hinaussahest. Es gehört auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das Leben mit dir teile.”

Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas. Sie hatte nämlich damals dem von Reisen zurückkehrenden Eduard Ottilien absichtlich vorgeführt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so große Partie zuzuwenden: denn an sich selbst, in Bezug auf Eduard, dachte sie nicht mehr. Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen; aber dieser, der seine frühe Liebe zu Charlotten hartnäckig im Sinne behielt, sah weder rechts noch links und war nur glücklich in dem Gefühl, daß es möglich sei, eines so lebhaft gewünschten und durch eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich doch teilhaft zu werden.

Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen ließ: “Kommen Euer Gnaden doch ja schnell herüber! Herr Mittler ist in den Schloßhof gesprengt. Er hat uns alle zusammengeschrien, wir sollen Sie auf’suchen, wir sollen Sie fragen, ob es not tue? Ob es not tut, rief er uns nach: hört ihr? aber geschwind, geschwind!” “Der drollige Mann!” rief Eduard aus, “kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Charlotte?” “Geschwind zurück!” befahl er dem Bedienten, “sage ihm: es tue not, sehr not! Er soll nur absteigen. Versorgt sein Pferd, führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Frühstück vor; wir kommen gleich.”

“Laß uns den nächsten Weg nehmen” sagte er zu seiner Frau und schlug den Pfad über den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte. Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für das Gefühl gesorgt habe. Mit möglichstes Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten.

Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert. Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die kleine Pforte hereintrat; er drückte Charlotten die Hand, und im Auge stand ihm eine Träne.

Aber der närrische Gast verscheuchte sie gleich. Denn dieser hatte keine Ruh im Schloß gehabt, war spornstreichs durchs Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er stillhielt und seinen Freunden entgegenrief: “Ihr habt mich doch nicht zum besten? Tut‘s wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier. Haltet mich nicht auf: ich habe heute noch viel zu tun.”

“Da Ihr Euch so weit bemüht habt” rief ihm Eduard entgegen, “so reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen, und seht, wie schön Charlotte diese Trauer ausgeschmückt hat.”

“Hier herein” rief der Reiter, “komm ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fuße. Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen. Gefallen muß ich mir‘s lassen, wenn man mich einmal die Füße voran hereinschleppt. Also ist‘s Ernst?”

“Ja,” rief Charlotte, “recht Ernst! Es ist das erste Mal, daß wirneuen gatten in not und verwirrung sind, woraus wir uns nicht zu helfen wissen.”

“Ihr seht nicht darnach aus” versetzte er, “doch will ich‘s glauben. Führt ihr mich an, so laß ich euch künftig stecken. Folgt geschwinde nach; meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen.”

Bald fanden sich die Dreie im Saale zusammen; das Essen ward aufgetragen, und Mittler erzählte von seinen heutigen Taten und Vorhaben. Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen und hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen als die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer, zu stillen und zu schlichten wußte. Solange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die Landeskollegien wurden mit keinen Händeln und Prozessen von dorther behelligst. Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr. Er warf sein ganzes Studium darauf und fühlte sich bald den geschicktesten Advokaten gewachsen. Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus, und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz, oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen wäre. Diejenigen, die auf Namensbedeutungen abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen.

Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zurückzuhalten, weil er gleich nach dem Kaffee fort müsse. Die beiden Eheleute machten umständlich ihre Bekenntnisse; aber kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrießlich vom Tische auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl.

“Entweder ihr kennt mich nicht” rief er aus, “ihr versteht mich nicht, oder ihr seid sehr boshaft. Ist denn hier ein Streit? Ist denn hier eine Hülfe nötig? Glaubt ihr, daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben? Das ist das dümmste Handwerk, das einer treiben kann. Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann. Gerät es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Glücks; läuft‘s übel ab, dann bin ich bei der Hand. Wer ein übel lossein will, der weiß immer, was er will; wer was Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind —, ja ja! lacht nur — er spielt Blindekuh, er ertappt‘s vielleicht; aber was? Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei! Nehmt die Freunde zu euch, laßt sie weg: alles einerlei! Das Vernünftigste habe ich mißlingen sehen, das Abgeschmackteste gelingen. Zerbrecht euch die Köpfe nicht, und wenn‘s auf eine oder die andre Weise übel abläuft, zerbrecht sie euch auch nicht. Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen sein. Bis dahin euer Diener!”

Und so schwang er sich auf’s Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten.

“Hier siehst du” sagte Charlotte, “wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht. Gegenwärtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenn‘s möglich ist, als vorher.”

Beide Gatten würden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben, wäre nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten angekommen. Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gemäß war. Er wollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen, indem man auf ihn das Zutrauen setzte, daß er sie vertreiben würde.

Eduard übersah das ganze Verhältnis recht deutlich und malte es noch recht scharf aus. “Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen?” rief er, “Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!” “Der wunderliche Mann, unser Mittler” versetzte Charlotte, “hat am Ende doch recht. Alle solche Unternehmungen sind Wagestücke. Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus. Solche neue Verhältnisse können fruchtbar sein an Glück und an Unglück, ohne daß wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen dürfen. Ich fühle mich nicht stark genug, dir länger zu widerstehen. Laß uns den Versuch machen. Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen. Erlaube mir, daß ich mich tätiger als bisher für ihn verwende und meinen Einfluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit gewähren kann.”

Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der lebhaftesten Dankbarkeit. Er eilte mit freiem, frohem Gemüt, seinem Freunde Vorschläge schriftlich zu tun. Charlotte mußte in einer Nachschrift ihren Beifall eigenhändig hinzufügen, ihre freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen. Sie schrieb mit gewandter Feder gefällig und verbindlich, aber doch mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewöhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie ärgerlich machte und nur größer wurde, indem sie ihn wegwischen wollte.

Eduard scherzte darüber, und weil noch Platz war, fügte er eine zweite Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten.

Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht überzeugender ausdrücken zu können, als indem er aber und abermals darauf bestand: Charlotte solle sogleich Ottillen aus der Pension holen lassen.

Sie bat um Auf’schub und wußte diesen Abend bei Eduard die Lust zu einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte spielte sehr gut Klavier; Eduard nicht ebenso bequem die Flöte: denn ob er sich gleich zuzeiten viel Mühe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehört. Er führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht geläufig waren, und so wär es für jeden andern schwer gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wußte sich darein zu finden; sie hielt an und ließ sich wieder von ihm fortreißen, und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer das Maß zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.

3. KAPITEL

Der Hauptmann kam. Er hatte einen sehr verständigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten völlig beruhigte. So viel Deutlichkeit über sich selbst, so viel Klarheit über seinen eigenen Zustand, über den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und fröhliche Aussicht.


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