Doch mein Zorn auf Bach würde mich nicht hier herausbringen. Der Aufzug musste die vierte Etage mittlerweile fast erreicht haben und wer immer hinter mir die Treppe herauf kam, konnte auch nicht mehr allzu weit entfernt sein. Ich hatte weiß Gott dringendere Probleme, als mit dem Schicksal zu hadern.
Ich verschwendete noch eine weitere Sekunde, in der ich vergeblich nach irgendeiner Möglichkeit suchte, die Tür hinter mir abzuschließen, dann gab ich es endgültig auf und lief mit raschen Schritten den Flur hinunter. Es gab nur ein einziges Fenster, das sich noch dazu am anderen Ende des langen Ganges befand, aber ich widerstand der Versuchung zu rennen. Sollte irgendeiner der anderen Gäste zufällig aus seinem Zimmer kommen, würde er sich vielleicht an mich erinnern, wenn ich an ihm vorbeiging und man ihn später danach fragte; aber ganz bestimmt, wenn ich an ihm vorbeirannte.
Es trat niemand aus seinem Zimmer und auch die Aufzugtüren bewegten sich nicht, bis ich das Fenster erreichte. Und ich hatte abermals Glück: Offenbar nahm man es in Fort Worth mit den Bauvorschriften genauer als in den meisten anderen amerikanischen Städten, denn das Fenster führte direkt auf eine Feuertreppe hinaus. Rasch öffnete ich es, kletterte ins Freie und zog das Fenster sorgfältig hinter mir wieder zu, ehe ich den Abstieg begann. Drei Minuten später trat ich auf den Bürgersteig vor dem TEXAS hinaus, überquerte mit schnellen, aber nicht hastigen Schritten die Straße und betrat das Café. Kim saß am gleichen Tisch wie vorhin, trank einen Kaffee und sah so perfekt gelangweilt aus, dass ich mich für einen Moment lang ernsthaft fragte, ob ich mir ihren Anruf vielleicht nur eingebildet hatte.
Sie war nicht mehr allein. An dem zweiten Tisch am Fenster, der vorhin noch leer gewesen war, saß jetzt ein junges Paar, das sich angeregt unterhielt. Die beiden beachteten weder Kim noch mich, sondern schienen ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein. Sie wirkten vollkommen harmlos.
Ungefähr so unverdächtig wie Kimberley.
Ich setzte mich zu ihr, gab dem Kellner mit einem Wink zu verstehen, dass er mir noch einen Kaffee bringen sollte, und sah aus dem Fenster. Vor dem Hotel blieb alles ruhig. Wahrscheinlich waren Bach und seine Leute noch damit beschäftigt, nach Marcel und mir zu suchen.
»Nun, Liebling«, fragte Kimberley, eine Spur lauter, als vielleicht notwendig war, »wie ist es gelaufen?«
»Gut«, antwortete ich. »Ich glaube, dieser Marcel ist genau der Mann, den wir brauchen. Wir werden wohl ins Geschäft kommen. Aber die Konkurrenz ist auch hinter ihm her.« Ich sah an Kimberley vorbei zum Nachbartisch. Die beiden dort drüben nahmen noch immer keinerlei Notiz von uns. Wenn sie Schauspieler waren, dann die besten, die ich jemals gesehen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie harmlos.
Trotzdem senkte ich meine Stimme fast zu einem Flüstern, als ich weitersprach. »Wie viele sind es?«
»Bach, Steel und ein dritter Mann«, antwortete Kim.
»Nicht mehr?«
»Keine, die ich gesehen habe«, sagte sie. Lauter fügte sie hinzu: »Hat er dir ein Muster gezeigt? Ich meine: sensationelle Angebote haben viele, aber...«
»Keine Sorge. Sein Angebot ist seriös. Hier – sieh selbst.« Ich zog das Feuerzeug aus der Tasche, das mir Marcel gegeben hatte, reichte es ihr und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, wie sie es öffnen konnte. Kimberley warf einen raschen Blick in das Geheimfach, drehte ein paar Mal am Zündrad und wollte mir das Feuerzeug zurückgeben, aber ich schüttelte den Kopf.
»Behalt es. Wenn wir ins Geschäft kommen, bekommen wir hunderte davon... falls uns die Konkurrenz nicht dazwischenfunkt, heißt das.«
Das junge Paar am Nachbartisch stand auf und ging.
Wahrscheinlich waren sie nicht in der Stimmung, einem Handlungsreisenden zu lauschen, der seiner Freundin von einem großen Geschäft vorschwärmte, das er in Kürze abzuschließen hoffte.
Nachdem wir endlich alleine waren, atmete Kim hörbar auf. »Ich dachte schon, sie gehen nie«, seufzte sie. »Wie ist es gelaufen?«
»Nicht sehr gut«, antwortete ich. »Ich hoffe, Marcel ist ihnen entwischt. Der Mann weiß eine Menge. Wäre Bach eine halbe Stunde später gekommen...«
»Ich habe noch eine schlechte Nachricht«, sagte Kimberley mit einer Kopfbewegung auf das Radio, das in der Wand über der Theke angebracht war. Ich hatte dem Programm bisher keine Beachtung geschenkt, aber es schien sich nicht von dem zu unterscheiden, das alle Radiosender des Landes an diesem Tag ausstrahlten: klassische Musik und wenn überhaupt, dann nur melancholische, traurige Schlager.
»Sie haben es gerade in den Nachrichten gebracht. Es hat einen Mord gegeben. In dem Motel, in dem wir übernachtet haben.«
»Steel.« Ich hatte mich nicht getäuscht. Es war ein Schalldämpfer gewesen.
»Zwei Tote«, fuhr Kim fort. »Ein junges Ehepaar. Ich glaube, sie hatten das Apartment neben uns...«
»Dann hat er sich offenbar in der Tür geirrt. Oder wusste nicht genau, in welchem Apartment er uns findet. Er scheint sehr gründlich vorzugehen.«
»Aber das... das ist Wahnsinn«, murmelte Kim. Ihr Gesicht blieb unbewegt, aber in ihrer Stimme war ein Ton, der mich schaudern ließ. »Welcher normale Mensch würde so etwas tun?«
»Keiner«, antwortete ich. »Aber Steel ist kein normaler Mensch mehr.«
»So wie ich, wolltest du sagen.« Kims Augen wurden um einen Ton dunkler.
»Unsinn! Er ist...«
»Übernommen«, unterbrach mich Kim. Ihre Stimme war ganz ruhig. Kalt. »Besessen. Von einem Ganglion befallen... Nenn es, wie du willst, aber es läuft immer auf das Gleiche raus. Ihm ist dasselbe passiert wie mir.«
»Aber das ist doch nicht wahr!«, protestierte ich. Die unheimliche Dunkelheit in ihren Augen war noch immer da und in ihrer Stimme war etwas, das mich fast in Panik versetzte. »Steel und du, das... das sind zwei grundverschiedene Dinge! Dieses... Ding ist nicht mehr in dir! Es hat niemals Gewalt über dich erlangt. Ganz davon abgesehen, dass Steel wahrscheinlich schon vorher ein Psychopath war.«
Ich streckte die Hand über den Tisch, um nach ihren Fingern zu greifen, aber Kim zog den Arm zurück und deutete ein Kopfschütteln an. »Und meine Träume?«, fragte sie. »Und das andere? Wieso kann ich sie spüren? Wieso weiß ich Dinge, die ich eigentlich gar nicht wissen kann?«
»Hör endlich auf damit!«, unterbrach ich sie; anscheinend eine Spur zu laut, denn ich sah aus den Augenwinkeln, wie der Mann hinter der Theke für einen Augenblick in seiner Tätigkeit innehielt und stirnrunzelnd in unsere Richtung blickte. Ich rettete mich in ein verlegenes Lächeln und ein Achselzucken, ehe ich mich wieder an Kimberley wandte und erneut – allerdings viel leiser – sagte: »Hör auf damit, Schatz. Das ist nicht wahr und du weißt es. Sie haben dich nicht gekriegt. Wir haben das Ding früh genug aus dir herausgeholt. Du bist immer noch du!«
»Bin ich das?« Kim schluckte ein paarmal. Ihr Gesicht wirkte weiter unbewegt, aber ich spürte, dass sie nur noch mühsam die Tränen unterdrückte. »Weißt du, John, genau das ist es, was ich mich frage. Bin ich wirklich noch ich? Oder bin ich nur noch ein... ein Ding, das aussieht wie ich, denkt wie ich und sich einbildet, es wäre ich?«
»Hör auf damit«, sagte ich leise. »Bitte! Es ist alles in Ordnung. Warum quälst du dich so?«
Weil eben nicht alles in Ordnung war. Kim sagte nichts mehr, aber ich kannte die Antwort auf meine eigene Frage nur zu gut. Nichts war mehr so, wie es gewesen war, seit ich das Ding in der Kühlkammer im unterirdischen Labor von Majestic gesehen hatte. Selbst im Tode hatte mich der Anblick dieser Kreatur noch bis ins Innerste erschüttert. Und Kim hatte einen Teil dieses Wesens in sich gehabt. Wie konnte ich mir auch nur für eine Sekunde einbilden, dass sie dieses schreckliche Erlebnis mit einem Achselzucken abtun und anschließend zur Tagesordnung übergehen konnte, als wäre nichts geschehen?