»Wir haben Kontakt«, sagte Bach leise.
22. November 1963, 15:56
Norman, Oklahoma
Das Ortsschild, das vor zehn Minuten am linken Straßenrand an uns vorüber gehuscht war, war das letzte Anzeichen menschlicher Zivilisation gewesen. Seither war die Straße nicht nur immer schlechter geworden, sondern unser Tempo auch ständig weiter gesunken. Seit fünf Minuten bewegten wir uns nur noch im Schritttempo. Beiderseits der festgefahrenen Piste, von der meine Karte in einem Anfall von Größenwahn behauptete, es handele sich um eine Straße, erstreckte sich eine karge, fast wüstenähnliche Landschaft: ausgedörrter Boden, aus dem nur hier und da ein vertrockneter Strauch ragte, kantige Hügel, da und dort das Skelett eines Baumes, der selbst in seiner besten Zeit nicht mehr als Mannsgröße erreicht hatte, Kieselsteine von der Größe eines Einfamilienhauses... Es war schwer zu glauben, dass wir uns mitten in Oklahoma befanden und nicht auf der Rückseite des Mondes oder auf irgendeinem fremden, unbewohnten Planeten. Aber für unser Vorhaben war diese Umgebung perfekt. Ich hatte eine halbe Stunde lang die Karte studiert, um einen passenden Ort zu finden, und das Ergebnis übertraf beinahe meine Erwartungen.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Kimberley. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seit wir das Motel verlassen hatten. Ihre Stimme klang flach und drückte noch mehr von ihrer Müdigkeit aus, als es die unnatürliche Blässe ihres Gesichtes und die tief eingegrabenen, dunklen Linien darin taten.
Ich versuchte die Karte zu rekapitulieren, suchte gleichzeitig nach einem bestimmten Geländemerkmal und zuckte schließlich mit den Schultern. »Zwei oder drei Meilen«, schätzte ich. »Warum?«
Kimberley antwortete nicht. Ich war auch nicht sicher, ob sie meine Worte überhaupt gehört hatte. Ich wandte flüchtig den Kopf, sah ihr ins Gesicht und erschrak, als ich sie anblickte – obwohl ich wusste, was ich sehen würde. Kim war totenbleich und ihre Augen blickten glasig. Sie hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen – das ganze Land hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen – aber das war nicht der alleinige Grund für ihren Zustand. Der Schock, der die gesamte Nation befallen hatte, hatte auch uns ergriffen, aber unser Schrecken ging tiefer. Vielleicht, weil Kim und ich wussten, was wirklich geschehen war. Oder es in diesem Moment zumindest zu wissen glaubten.
Der Chevy rumpelte über einen trockenen Ast, der quer über der Straße lag und mit einem trockenen Knall zerbrach. Das Geräusch klang in meinen Ohren wie ein Schuss.
»Wir haben ihn getötet, John«, murmelte Kim.
Ich sah überrascht hoch. »Wie?«
»Wir haben ihn umgebracht, John«, wiederholte Kimberley. »Wir haben den Präsidenten getötet.«
»Unsinn!«, antwortete ich impulsiv – und nicht annähernd so überzeugt, wie ich es sein sollte. Vielleicht hatte sie Recht. Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte, aber vielleicht stimmte es dennoch. Bach hatte mir gesagt, dass wir uns im Krieg befanden, und vielleicht waren gestern Nachmittag in Dallas die ersten realen Schüsse gefallen. Und vielleicht war es meine Schuld, dass man sie abgefeuert hatte. Trotzdem sagte ich noch einmal und mit größerem Nachdruck: »Nein! Es war nicht unsere Schuld!«
»Wir haben ihm alles erzählt und jetzt ist er tot«, beharrte Kim.
»Das ist... Zufall«, beharrte ich. »Ein schrecklicher Zufall, mehr nicht. Nicht einmal Bach würde es wagen, so weit zu gehen. Ich traue diesem Mann beinahe alles zu, aber nicht, dass er den Befehl gegeben hat, Kennedy zu ermorden!«
»Nein. Weil er so ein guter Mensch ist.«
»Nein. Weil er nicht dumm ist«, antwortete ich gereizt. »Er kann nicht damit rechnen, damit durchzukommen. Sie werden nicht eher ruhen, bis sie herausgefunden haben, wer hinter dem Attentat steckt. Ganz egal, wie lange es dauert und wie viele einflussreiche Personen darin verwickelt sind. Dieses Risiko würde er niemals eingehen!«
Kim sah mich mit einem Ausdruck leichter Überraschung an und ich fragte mich einen Moment lang selbst, warum ich Bach – ausgerechnet Bach! – so vehement verteidigte.
Vielleicht weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, dass Kim Recht haben könnte. Und was es für mich bedeutete...
»Wir... mussten es jemandem sagen«, fuhr ich nach einer Weile fort. »Ich hätte nicht weiterleben und so tun können, als wäre nichts geschehen. Und du auch nicht.«
»Sie dürfen nicht gewinnen«, murmelte Kim. »Wir dürfen sie nicht gewinnen lassen.«
Ich sah sie erneut an, ein wenig überrascht von dem Mut, der aus ihren Worten sprach, aber auch von einem plötzlichen Gefühl tiefer Zuneigung und Wärme erfüllt, das mich dazu brachte, die rechte Hand vom Lenkrad zu lösen und den Arm um ihre Schulter zu legen. Kimberley lehnte den Kopf gegen mich und schloss die Augen. Ihr Atem beruhigte sich und einen Moment lang dachte ich, sie wäre eingeschlafen. Aber dann fragte sie ganz leise:
»Sind wir die Nächsten, John?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Aber vielleicht machte ich mir nur selber etwas vor. Wenn es so war, wie Kim glaubte, wenn tatsächlich Bach den Mord an Kennedy angeordnet hatte, dann mussten sie uns töten.
Ich weigerte mich, es zu glauben. Diesen Gedanken zu akzeptieren hätte zugleich auch bedeutet, mich einer anderen, noch viel erschreckenderen Erkenntnis zu stellen, nämlich der, dass wir keine Chance hatten. Wir waren Verdammte, hilflos einem Gegner ausgeliefert, der in der Lage war, den Präsidenten der Vereinigten Staaten am helllichten Tag zu töten – warum sollte er uns fürchten?
Vielleicht weil wir im Besitz der einzigen Waffe waren, die ihn vernichten konnte: der Wahrheit.
»Ich habe Angst, John«, murmelte Kim.
»Ich auch«, antwortete ich. »Aber wir können sie schlagen. Wir müssen es.«
Es war Blut geflossen. Der Krieg, von dem Bach gesprochen hatte, war in eine neue Phase getreten, und ich wusste in diesem Moment mit unerschütterlicher Sicherheit, dass dies keineswegs das Ende, sondern erst der Beginn war. Mehr Blut würde fließen und grauenvolle Dinge geschehen. Vielleicht würde das nächste Blut, das vergossen wurde, unseres sein.
Aber das sprach ich nicht aus.
Ich hatte die Weggabelung entdeckt, nach der ich Ausschau gehalten hatte, und nahm den Fuß vom Gaspedal; gleichzeitig kuppelte ich aus. Das Brummen des Motors sank zu einem kaum hörbaren Geräusch herab. Unter den Reifen knirschten Kies und trockene Äste, als ich den Wagen ausrollen ließ und ihn dabei von einer schlechten auf eine noch schlechtere Straße lenkte. Trotz seines Alters lief der Motor einwandfrei; heute vielleicht noch leiser und gleichmäßiger als sonst. Fast als ahnte er, was geschehen würde.
Wir hielten an. Ganz automatisch drehte ich den Zündschlüssel herum und zog ihn ab; dann besann ich mich eines Besseren, steckte ihn wieder ins Schloss und startete den Motor. Ich musste mir angewöhnen, nicht mehr so viele Dinge automatisch zu tun. Ich musste mir sehr viel an– und abgewöhnen, um das Leben als Gejagter zu meistern.
Kimberley stieg aus und nahm die Reisetasche mit den wenigen Dingen aus dem Kofferraum, die wir am Morgen ausgesucht hatten. Der größte Teil unserer Habseligkeiten würde zurückbleiben, darunter auch einige persönliche Dinge, deren Verlust wirklich schmerzte. Aber es musste perfekt sein.
Während Kim schweigend Abschied von den wenigen Gegenständen nahm, die einen Großteil unseres zurückliegenden Lebens repräsentierten, ging ich einen flachen Hügel hinauf und sah nach Westen. Die Landschaft dort war nicht weniger öde als die, durch die wir in den letzten zehn Minuten gefahren waren. Mit einem Unterschied: Nicht weit entfernt zog sich das staubige Asphaltband einer Interstate wie ein mit einem überdimensionalen Lineal gezogener Strich durch die Ödnis. Die Bushaltestelle war weiter entfernt, als ich nach einem Blick auf die Karte angenommen hatte. Eine gute halbe Stunde Fußmarsch, schätzte ich. Nun ja, man konnte nicht alles haben.