Ich beschloss, es herauszufinden. Dabei rangen die widerstrebendsten Gefühle in mir, das Verlangen, Kim anzuherrschen und zu fragen, was denn nur eigentlich los sei, und das Gefühl, dass es im Moment besser war, einfach ihrem Wunsch nachzukommen. Aber ich hatte keine Lust, mir das Steuer aus der Hand nehmen zu lassen, und das im wortwörtlichen Sinne.

»Was ist nun?«, fragte Ray. »Mit jeder Sekunde, die wir hier rumstehen, sinkt unsere Chance, mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen.«

»Du hast Recht«, sagte ich und nickte mit einer Entschlossenheit in die Dunkelheit hinein, die ich so nicht empfand. »Aber ich fahre. Das ist doch hier richtig, oder?«

»Ja, die Richtung stimmt.« Rays Stimme klang mühsam beherrscht. Wie ich diesen Tonfall hasste, mit dem er immer und immer wieder versucht hatte, Einfluss auf mein Leben zu gewinnen. Und doch war es im Augenblick vollkommen nebensächlich.

Ich startete den Wagen und fuhr auf Rays Geheiß hin weiter nach Osten, in eine Gegend, die mir kaum bekannt war und mich eher an New York als an Washington erinnerte, so urban und gleichzeitig heruntergekommen wirkte sie. Dazu mochte der Regen beitragen: Der Niederschlag war mittlerweile in feines Nieseln und einen nach unten drückenden Nebel übergegangen, gegen das die Scheibenwischer verzweifelt ankämpften. Die Schlieren auf der Windschutzscheibe machten es fast unmöglich, die Fahrbahn zu erkennen. Viel mehr als das vom Scheinwerferlicht reflektierte glitzernde Funkeln der feuchten, von den dunklen Silhouetten trister Miethäuser eingerahmten Straße war nicht zu erkennen, aber das war es nicht, was mir Sorgen machte. Um diese Zeit und bei diesem Wetter war eine solche Wohngegend zweiter Klasse sowieso so gut wie leer gefegt und die Gefahr, einen Fußgänger zu übersehen, entsprechend gering. Nein, was mir Sorgen machte war die rapide Veränderung von Kims Zustand, die mich das Schlimmste befürchten ließ.

Nach ein paar Minuten hatte ich vollständig die Orientierung verloren und wunderte mich darüber, mit welcher Sicherheit Ray die Richtung vorgab. Er war meines Wissens früher noch nie in Washington gewesen und konnte auch jetzt erst seit kurzem in der Stadt sein; dennoch kannte er sich hervorragend hier aus. Schließlich dirigierte er mich in eine schmale Seitenstraße, in der auf Anhieb ein Parkplatz frei war. Bei diesem Wetter, bei dem jeder vernünftige Mensch zu Hause blieb, ein wahrer Glücksfall, den ich allerdings nicht richtig würdigen konnte. Schließlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich das Beste war, gemeinsam mit Kim Rays Wohnung aufzusuchen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, bei Dr. Hertzog auszuharren und darauf zu hoffen, dass er ihr weiterhelfen konnte.

Trotzdem stieg ich wortlos aus dem Wagen und folgte Ray und Kim, die ineinander eingehakt mit schnellen Schritten auf den Eingang eines vierstöckigen Hauses zusteuerten. Ich hatte es so eilig, den beiden zu folgen, dass ich darauf verzichtete, den alten Dodge abzuschließen. So, wie der Wagen aussah, würde ihn selbst hier niemand anrühren und wenn: Es war mir in diesem Moment vollkommen egal.

Der dunkle, nasse Himmel ließ die alten Häuser sicherlich schäbiger und unansehnlicher aussehen, als sie bei Sonnenschein gewirkt hätten. Vielleicht war sogar der leichte, aber durchdringende Gestank des Mülls nur bei einem solchen Wetter wahrzunehmen. Dennoch: Es gab bessere Gegenden, vor allem in Washington, das seiner Würde als Hauptstadt der Vereinigten Staaten in allen Punkten gerecht zu werden versuchte. Anders als in den üblichen amerikanischen Städten dominierten gut gepflegte Gebäude im Stil der italienischen Renaissance oder der europäischen Klassik, helle Bauten mit Säulen, Erkern und Verzierungen inmitten sorgfältig angelegter Grünflächen und Gärten, wie sie vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren und auch spätere Bauherren noch entsprechend inspiriert hatten. Sicherlich war nicht alles aus Marmor und nicht alles im besten Zustand; Reihenhaussiedlungen typisch amerikanischer Art mit preiswerten Holzhäusern, die auf uneingezäunten, nur sparsam bepflanzten Grundstücken standen, prägten in langweiliger Gleichförmigkeit ganze Stadtviertel. Doch ausgewachsene Wolkenkratzer gab es in Washington überhaupt nicht, höchstens Miethäuser mit wenigen Stockwerken – doch auch diese konnten unansehnlich und schmuddelig aussehen.

In genau so einem Haus wohnte Ray.

Ray hatte bereits die unverschlossene Haustür aufgestoßen und Kim mit einer raschen Geste an sich vorbei in die Trockenheit gestoßen. Als ich ihn erreichte, schob er auch mich in den Hausflur, einen düsteren, nur spärlich beleuchteten Treppenschacht, der überhaupt nichts Einladendes hatte. Das Licht stammte von einer Glühbirne, die am Draht von der Decke hing; die Zuleitung und der Drahtkäfig um die Birne’ schwankten ein wenig; der ganze Hausflur war in ein flackerndes Licht getaucht, in dem ich Kim wie einen verschwommenen Schemen wahrnahm. Ich musste ein paarmal blinzeln, bevor ich meine Umgebung genauer erkennen konnte. Es wurde Zeit, dass ich etwas gegen meinen Erschöpfungszustand unternahm. Mich zum Beispiel ein paar Stunden aufs Ohr legte. Ansonsten bedurfte es keines Bachs und keiner Grauen, um mich fertig zu machen.

»Da hat schon wieder jemand die Haustür aufgelassen«, murmelte Ray, während er vor mir die knarrende Holztreppe hinaufstieg. Ich erkannte, dass Kim bereits vor einer Tür im ersten Stock stehen geblieben war, auf uns wartend. Ich suchte ihren Blick, aber sie starrte an mir vorbei ins Nichts, gedankenverloren vielleicht oder auch ausweichend, weil sie im Grunde genommen im Moment genauso wenig mit mir sprechen wollte wie ich mit ihr. Zumindest konnte ich an ihr keine außergewöhnliche Veränderung feststellen, sah man einmal von den dunklen Ringen unter den Augen ab und von den Haarsträhnen, die ihr wirr und verschwitzt über der Stirn hingen. Kimberley hatte es bislang immer verstanden, sich frisch und adrett zu präsentieren; ein Wesenszug, der bei ihr viel stärker ausgeprägt war als bei mir. Bei ihrem Anblick hatte ich das Gefühl, als würde man mir ein Messer im Magen umdrehen. Es war einfach entwürdigend.

Ray schob sich an mir vorbei und kramte in den Hosentaschen nach seinem Schlüssel. Dann schien er zu stutzen. »Das gibt es doch gar nicht«, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns. Er stieß gegen die Tür und sie schwang mit einem leise quietschenden Geräusch zurück. »Sieht so aus, als hätte ich in der Zwischenzeit Besuch gehabt.«

Ich spürte ein prickelndes Gefühl im Nacken und meine Magenmuskeln schienen sich zusammenzuziehen. Es war still im Hausflur, abgesehen von einem entfernten Klappern von Geschirr, ein paar gedämpften Stimmen, die von einem Radio oder einem Fernseher stammen konnten. Doch die Stille konnte trügerisch sein; der Hausflur über uns blieb unseren Blicken verborgen und war damit ein geeignetes Versteck für jemanden, der es auf uns abgesehen hatte. Genauso gut war es aber auch möglich, dass man in aller Ruhe in der Wohnung auf uns wartete.

Ray schien in die gleiche Richtung zu denken wie ich. »Bleibt hier«, flüsterte er. »Ich seh’ erst mal nach, was los ist.«

Ich nickte nur stumm und sah zu, wie Ray die Tür aufstieß und in der dunklen Wohnung verschwand. Ich tauschte einen raschen Blick mit Kim und las in ihren Augen die gleiche Art von Besorgnis, die auch ich empfand. Es war merkwürdig, aber ich dachte zuerst an Steel, an unseren gnadenlosen Verfolger, der im Driver’s Inn ohne zu zögern ein junges Paar erschossen hatte, nur weil er es mit uns beiden verwechselt hatte. Ich traute ihm durchaus zu, dass er Ray aufgestöbert hatte und nun hier in der Wohnung auf ihn oder vielleicht sogar gezielt auf uns alle drei wartete. Und doch passte es nicht zusammen: Steel hätte weder die Haus– noch die Wohnungstür offen gelassen, dazu war er viel zu sehr Profi. Das hier war ganz eindeutig nicht seine Handschrift.


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